"Eines dürfte indes klar und deutlich geworden sein:
daß weder Zukunft noch Vergangenheit sind,
und daß man eigentlich nicht sagen kann, es gibt drei Zeiten,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,
sondern daß man, um genau zu sein, vielleicht sagen muß:
es gibt drei Zeiten,
die Gegenwart vom Vergangenen, die Gegenwart vom Gegenwärtigen
und die Gegenwart vom Zukünftigen.
Denn diese drei sind in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht.
Die Gegenwart des Vergangenen ist Erinnerung,
die Gegenwart des Gegenwärtigen ist die Anschauung,
und die Gegenwart des Zukünftigen ist die Erwartung."

Augustinus, "Confessiones"

Ein (Alb)Traumstück um die Konsequenzen menschlicher Entscheidungen

Im "Trovatore" leben Figuren, die beständig der Vergangenheit gedenken, eine glücklichere Zukunft ersehnen und doch fortwährend von allgegenwärtigen Schicksalsschlägen geknechtet werden bzw. diese leichtsinnig-gedankenlos selber provozieren. Ein Spiel von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart also.

Es lebte ein alter Mann, Graf Luna - wir erleben ihn nicht; von ihm wird, wie von so vielem in dieser Oper, nur berichtet -, dem der grausame Mord an einer hilflosen Frau mit dem Verlust eines seiner beiden Söhne vergolten wurde.

Es lebt eine Frau, Azucena, diesen lange zurückliegenden Feuertod der Mutter ständig vor Augen, so dass sie die Gegenwart fast nicht mehr wahrnehmen kann.
Ihr zur Seite lebt nicht der Sohn, den hat sie im Wahn umgebracht, sondern der Sohn ihres Todfeindes. Am Ende liefert sie ihn offenen Auges dem Tod aus, ihn niemals aufklärend ob seiner Herkunft. Sie vollzieht späte Rache, dabei sich selber bestrafend.

Es lebt dieser Sohn, seiner selbst nicht bewusst, als politischer Kämpfer und träumend Liebender; ein Troubador, als einziger im Stück vergangenheitslos erscheinend (die Gelegenheit, seiner eigenen Herkunft offenbar zu werden, lässt er naiv verstreichen, wir sind Zeugen), nur der Zukunft nachjagend.
Einer Zukunft in Gestalt besserer Verhältnisse und einer schönen Frau:
Leonore.
Diese lebt träumerisch eines schönen Mannes gedenkend, den sie verloren hat; ihn wiederfindend und gleichzeitig mit seinem Bruder (!) verwechselnd; ihn wieder verlierend und darauf zum Klostergang entschlossen; von ihm dann wiedergefunden, wieder verloren.
In höchster Zuspitzung entscheidet sie sich, endlich und einziges Mal autonom, ihn durch Selbstmord endgültig zu verlieren und damit zu retten.
Dieses Opfer, wie so vieles, ist vollkommen sinnlos: wird von Manrico selber ad absurdum geführt durch den von ihm selbst in Kauf genommenen Tod.

Es lebte und lebt schließlich Ferrando, der Geschichtenerzähler, Wanderer zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Sein alter Herr: der alte Graf Luna;
sein neuer Herr: Graf Luna der Gegenwart.

Er ist erster Sohn jenes alten Mannes; den jüngeren Bruder hat er verloren, sucht seitdem diesen totgesagten Bruder und erkennt ihn sehenden Auges doch nicht; auch er kämpft für seinen politischen Glauben und um die Geliebte, kämpft in beidem gegen den Bruder, ihn nicht erkennend, bringt ihm den Tod.
Als Azucena ihm die Wahrheit enthüllt, ist es zu spät: das Bild des sterbenden Bruders reflektiert sein eigenes Selbst: "Und ich lebe noch?" und macht dieses Noch -Leben gleichzeitig sinnlos.

Ein Kosmos verzwicktester Bindungen, Abstoßungen, Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Entscheidungen. Sie reichen weit in die Vergangenheit, bestimmen die Zukunft, das Handeln im Heute.

Man wünscht sich oft, den Figuren zurufen zu können: "Wacht auf!", sie an den Schultern durchzurütteln und zur Vernunft zu bringen.
Man wünscht sich, die Zeit anhalten, umkehren zu können; noch einmal von vorne zu beginnen, das Schreckliche nicht eintreten zu lassen, die Utopie zur Wirklichkeit zu machen.
Die naive Frage: Warum könnt Ihr nicht einfach Frieden machen?".
Naiv, natürlich.
Umsonst: Wir müssen miterleben, wie die schlimmstmögliche aller Wendungen zwangsläufig eintritt, unaufhaltsam rast der Schnellzug gegen die Wand.
Unumkehrbar.

Ein Abbild des Lebens?
"Sie sagen, diese Oper sei zu traurig, und es gebe darin zu viele Tote, aber ist nicht alles Tod im Leben?", schreibt Verdi.

Es gibt keine Hoffnung.
Gibt es vielleicht doch Hoffnung?

Joachim Rathke

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