"Ich warte..."

Welcher Mensch könnte behaupten zu wissen, was dem Menschen im Moment des Todes wiederfährt? Und doch durchgeistert uns die Erwartung, dass einem in den letzten Momenten das Leben noch einmal passiert, dass alles Gewesene in schnellen Bildern vor dem inneren Auge vorüberzieht, vielleicht im Bruchteil einer Sekunde, ein Tanz gefühlter, gedachter, geträumter Erlebnisse; unterbrochen vom Bewusstwerden der Schmerzen, der Agonie, unterbrochen durch einen Schluck Wasser in die fiebernde Hölle der Brust.

Eine Frau im Schweben zwischen Leben und Tod.
Tanzen, immer nur Tanzen.

Der seelische Tod entsprang schon dem körperlichen Leben: gefeierte Kurtisane, Geld, Luxus, Sex: der Wahnsinn des Geschlechterlebens; Vergnügungen, Bewunderung, keine materielle Not.
Das körperliche Leben bedingt den seelischen Tod: der Hass auf dieses Leben, das pure Vegetieren im Luxus; der Hass auf diese Männer und ihre Lust, der Hass auf die eigene Lust, Hass auf die Unfähigkeit, dem eigenen Leben zu entfliehen, diesem Taumel, diesem Versinken im Dreck, und den Tod wählen zu können. Hass auf diese ganze Welt.
Der seelische Tod ist auch der des Körpers: es gibt kein Entkommen, Gegenwehr zwecklos. Sie wird kommen, diese Sucht, die Dich schwinden macht, Du weißt es, Deine Mutter hat sie Dir vermacht. Sie kommt in jedem Glas Champagner zu Dir, welches Dich vergessen macht; sie ist in jeder Krankheit, die Dich für Tage auf das Bett wirft, in jeder Röte, die Deine Blässe noch schöner macht.
Das Leben und der Tod, dieses perfekte Paar, sie haben Dich als ihre Tochter adoptiert, Dich, die Kinderlose, die jedes ungewollte Kind wegmachen musste, blutenden Herzens. Beide lieben Dich. Sie kämpfen um ihr Recht.
Was für ein gesegnetes Schicksal!!

Tanzen, immer nur Tanzen; nicht aufhören zu können; die Füße stecken in roten Schuhen, immer weiter tanzen sie dem Ende entgegen.

Beobachtet sein, niemals allein. Im Bett zu liegen, zu sterben, und die Schritte zu hören, die Schritte dessen, der wartet und wacht.
Wartend auf den Tod, Du und er; Du wachend auf seine Schritte, er wachend, dass nichts abhanden kommt von Deinem Reichtum, der nicht Dir gehört. Nicht mehr, noch nie: es war immer alles geborgt, geliehen als Gegenpfand für die Lust, die Du gabst.
Der Gönner hängte Dir Juwelen an die Ohren und schmeichelte sich selber, wenn er Dich schöner machte.
Schritte hin und her, monoton, ein Totenwächter, eine Totenuhr; ein Wächter, der auf den Tod wartet, damit er endlich gehen und es endlich melden kann, damit er erlöst ist von dem Auftrag, die Sterbende zu bewachen und ihr Hab und Gut, das anderen gehört.
Wartend auf den Tod; Du liegst im Bett, der Tod zieht seine Kreise; langsam tanzend kommt er näher.

Auch andere schauen und wachen: Männer, die Dich früher begehrten und bezahlten und dann Deinen Körper besaßen; und Gläubiger, ungläubig, was aus Dir werden konnte, aus Deinem so schönen Leib, der ihr einziges Pfand war. Alle schauen, viele schließen Wetten ab: wie lange es noch gehen wird, wie viel hässlicher Du noch werden wirst, bevor Deine Lungen ertrinken und Du endlich ein Fall bist für die Abdecker. Die warten wohl auch schon.
Frauen warten und wachen; Kolleginnen sind's, Konkurrentinnen, denen Du immer voraus warst, geadelt nicht durch Herkunft, sondern allein nur durch Deine Haltung und Deinen Erfolg.
Sie mustern Dich, ungläubig erfreut auch sie, was aus Deiner Schönheit hat werden können. Gläser sind auf Dich gerichtet; kleine blinkende Ferngläser;
Sie haben Dich im Visier, verfolgen Deine Bewegungen; zahllose Menge von blinkenden Gläsern, die Dich anschauen wie Augen, schwarzer Schwarm von Doppelaugen, zirpend und schilpend.

Annina wartet und wacht, seit vielen Tagen und Wochen. Kaum dass sie hinausgeht, um eigene Bedürfnisse zu stillen. Annina ist gut zu Dir. Sie sitzt in ihrem Stuhl, nur manchmal nickt sie ein.
Wovon träumt sie, so sitzend auf ihrem Stuhl, träumt sie von ihrem eigenen Tod, der nicht mehr fern sein kann, träumt sie von Deiner, von ihrer Erlösung, bittet sie um die?
Bittet sie um Erlösung von aller Menschlichkeit?

Und wer ist die Frau hinter ihr, die hervorschaut und Dich ansieht; grauen Haares, doch nicht alt, zahnlos der Mund, doch die Augen sind Deine, und der Mund rot, doch pechschwarz im Innern, lächelnder Abgrund; wie ein Blick in den Spiegel ist ihr Schauen in Dein Gesicht, und Du weißt, es ist Deine Mutter, die Dir den Keim gab, den tödlichen Krankheitskeim, und die Dir Deinen Glauben gab, Dein Vertrauen auf einen Gott, um dessentwillen Du das Opfer auf Dich nahmst und der Dich nun so hart büßen lässt - Krankheit und Glauben, einzige Vermächtnisse außer Deiner schönen Augen... und Deine Mutter schaut und betet.

Und die junge Frau dort in der Ecke; nein, das bist doch Du, doch Du bist es nicht; sie ist gesund, sie ist lebendig und rosig und wie Kirschen und Milch; sie ist die Schwester, eine Zwillingsschwester, die Du nie hattest, die doch Dein Wunsch war, Dein Traum; sie hätte Dich, Du hättest sie beschützt; gemeinsam wäret Ihr unangreifbar gewesen, uneinholbar im Einverständnis; gemeinsam hättet Ihr allen und allem getrotzt; gemeinsam tanzend, Rücken an Rücken, hättet Ihr dem Leben die Stirn geboten.

Nur ein Gesicht fehlt, ein schönes Augenpaar fehlte all die Tage und Wochen, so lange ich auch gewartet habe, ein Abschied fehlte,
ein einziger fehlt:
Alfredo.
Ich warte.

Joachim Rathke
Aachen, 12.4.2003

zurück