Verdi war eines der großen Vorbilder des 23 Jahre jüngeren
Antonio Carlos Gomes und hat diesen sehr gelobt. So komponierte der
Brasilianer den Großteil seiner Bühnenwerke in und für Italien. Auch
seine vorletzte Oper "Lo Schiavo" hat ein italienisches Libretto, wurde
aber vom Theater in Bologna abgelehnt, was allerdings die triumphale
Uraufführung 1889 in Rio de Janeiro ermöglichte - ein Jahr nachdem die
Sklaverei in Brasilien abgeschafft worden war. Gomes hatte also einen
aktuellen Stoff vertont, auch wenn der Textdichter die Geschichte im
16.Jahrhundert zur Zeit der Kämpfe zwischen Portugiesen und Franzosen
angesiedelt hat.
Der Regisseur der deutschen Erstaufführung am Stadttheater Gießen,
Joachim Rathke, wiederum lässt das Stück in der Gegenwart spielen - aus
den indianischen Sklaven werden moderne Lohnarbeiter, die bei einem
Kaffeeproduzenten schuften müssen. In die Freiheit entlassen und somit
ihres Einkommens beraubt, hausen sie in der Nähe einer Müllhalde, von
wo aus sie als Kapuzenshirts tragende Jugendgang zum Kampf gegen die
Kapitalisten aufbrechen.
Findet Rathke für die äußere Sklaverei eher plakative Bilder (Bühne:
Bernhard Niechotz, Kostüme: Lukas Noll), so widmet er sich mit
eindringlicher Personenführung der inneren Sklaverei, deren Ketten
jeden der Protagonisten gefangen halten. Den stärksten Eindruck
hinterlässt Adrian Gans in der Titelpartie - eine Idealbesetzung des
Sklaven Iberè von imposanter Statur und gesegnet mit einem Bariton, der
stählern-kraftvoll das Orchester überstrahlt, aber auch mit warmem
Timbre ergreifend die Seelenqualen des unerwidert Liebenden wiedergibt.
Denn die mit Iberè zwangsverheiratete Sklavin Ilàra liebt den Sohn des
Kaffeeplantagenbesitzers Conte Rodrigo, Americo, in den wiederum sich
die französische Gräfin di Boissy verguckt hat. Sie ist es, die einer
Madonna gleich auf einer von Samba-Tänzerinnen aufgemischten
Wohltätigkeitsparty den Sklaven die Freiheit gibt. Adrian Xhema als
Americo hat alles, was das Publikum von einem Tenor im italienischen
Fach erwartet: Geschmeidigkeit und vor allem Strahlkraft. (…) Carla
Maffioletti als französische Gräfin lässt ihre Koloraturen funkeln.
Eindringlich auch mit markantem Bass Stephan Bootz in gleich zwei
Partien - Il Conte Rodrigo und Goitacà, Anführer der befreiten Sklaven.
Für die hervorragende Einstudierung der machtvollen Chöre ist Jan
Hoffmann verantwortlich. Am Pult des Philharmonischen Orchesters sorgt
Carlos Spierer für feurige Dramatik und allzu krachende Aktschlüsse,
widmet sich aber auch mit Hingabe dem koloristischen Reiz der
"Alvorada", welche den Sonnenaufgang im brasilianischen Urwald, hier
über der Müllhalde, stimmungsvoll ausmalt.
Ist "Lo Schiavo" nun eine Entdeckung für Opernfans? Auf jeden Fall. Die
Premiere erntete enthusiastischen Applaus.
Eine besondere Opernrarität steht zurzeit im Stadttheater
Gießen auf dem Programm: "Lo schiavo" ("Der Sklave") des
brasilianischen Komponisten Antônio Carlos Gomes (1836 - 1896), von dem
zuletzt in Europa die Freiheitsoper "Salvator Rosa" in Braunschweig zu
sehen war. Die Uraufführung von "Lo schiavo" fand 1889 in Rio de
Janeiro statt. Auch diese Oper ist unüberhörbar eine Hymne an die
Freiheit. Inspiriert von den kolonialen Missständen in seinem
Heimatland schuf Gomes mit "Lo schiavo" ein Werk, das die Menschen in
Brasilien wachrütteln sollte.
Die Handlung der Oper, deren Libretto von Rodolfo Paravicini stammt,
spielt in Brasilien im Jahr 1567. Über das Land herrschen die
Portugiesen, die Indios dienen ihnen als Sklaven. So steht die Liebe
von Americo, dem Sohn eines Plantagenbesitzers, und der Sklavin Ilàra
unter keinem guten Stern. Sie schwören zwar einander ewige Liebe, doch
wird Ilàra gezwungen, den Sklaven Iberè zu heiraten. - Als die Gräfin
di Boissy, die Americo liebt, erfährt, dass er nicht sie, sondern Ilàra
liebe, entlässt sie während eines Festes ihre Sklaven in die Freiheit
und plädiert für die Abschaffung der Sklaverei. Unter den
Freigelassenen befinden sich auch Ilàra und Iberè, dem Americo Rache
schwört. - Bei einer Sklavenrevolte trifft Americo seine Geliebte
wieder, stößt aber auch auf Iberè, den Anführer der Aufständischen.
Zwischen Freiheitsdrang, Opferbereitschaft und Todessehnsucht
schwankend, stehen nun alle drei vor der wichtigsten Entscheidung ihres
Lebens. Obwohl Iberè Gelegenheit hätte, seinen Rivalen Americo, den
Ilàra immer noch liebt, zu töten, verhilft er den beiden zur Flucht. Er
richtet sich schließlich vor seinen aufgebrachten Kampfgefährten selbst.
Joachim Rathke inszenierte die Oper mit dramatischer Pranke als
Plädoyer gegen jedwede Sklaverei, wobei er dem Chor besondere
Aufmerksamkeit widmete. Das eher nüchtern gehaltene Bühnenbild, dessen
einziger "Schmuck" ein großer, bunter Altar war, schuf Bernhard
Niechotz, die Kostüme - erotisch bei Ilàra, "Einheitstracht" bei den
Sklaven und Aufständischen, elegant und prächtig bei der Gräfin und
ihren Tänzerinnen - entwarf Lukas Noll.
Die Titelrolle, den Sklaven Iberè, stellte der junge amerikanische
Bariton Adrian Gans dar. Großgewachsen und ausgestattet mit kräftiger
Stimme hatte er eine starke Bühnenpräsenz, die er voll auszuspielen
verstand. (...)
Adrian Xhema, der albanische Tenor - seit Jahren Ensemblemitglied am
Staatstheater am Gärtnerplatz in München -, strapazierte seine
Tenorstimme als Americo (...) übermäßig. Die italienische Sopranistin
Virginia Todisco - eine Augenweide als seine Geliebte Ilàra - hielt
stimmlich voll mit. Der Bass Stephan Bootz, der sowohl den Conte
Rodrigo wie auch Goitacà, den Anführer der befreiten Sklaven gab, hielt
sich als Rodrigo eher zurück. Ausgezeichnet die brasilianische
Sopranistin Carla Maffioletti als Gräfin di Boissy. Sie spielte ihre
"vornehme" Rolle mit Augenzwinkern und begeisterte auch bei ihren
Koloraturen durch ihre gute Stimmführung. (...)
Zu erwähnen wäre noch der Bass Chi Kyung Kim, der den Aufseher Gianfèra
martialisch spielte und sang, sowie der Chor und Extrachor des
Stadttheaters Gießen, der stimmkräftig (fast eine Untertreibung!)
agierte und das Bühnengeschehen auch schauspielerisch bereicherte
(Leitung: Jan Hoffmann). Für einen farbigen Aufputz sorgte die
Sambagruppe mit ihren prächtigen Kostümen und ihrem Tanz auf dem Fest
der Gräfin. (...)
Brasilien gilt zwar durchaus als Land der Musik. Dabei mag man
aber eher an Samba-Klänge und Karneval in Rio de Janeiro denken,
weniger an die Oper. Dieser Eindruck täuscht jedoch, denn das 19.
Jahrhundert hat einen sehr bedeutenden klassischen Komponisten
hervorgebracht, der nach jahrelangen Studien und beachtlichen Erfolgen
in Italien in seine Heimat zurückkehrte und die europäische Oper dort
salonfähig machte: Antônio Carlos Gomes. Zurück in Brasilien widmete er
sich den Themen seiner Heimat und schuf ein Werk, welches zwar erst ein
Jahr nach der Unterzeichnung der "Lei Áurea", die die Sklaverei im
größten der südamerikanischen Länder zumindest auf dem Papier endgültig
abschaffte, zur Uraufführung kam, dem enthusiastischen Freiheitskampf
der Brasilianer aber kaum einen besseren musikalischen Ausdruck geben
konnte: Lo Schiavo. Dabei komponierte Gomes, geprägt von Größen wie
Donizetti, Bellini, Mercadante und vor allem Verdi, auf der Schwelle
zwischen gefühlsgetränkter italienischer Romantik und purem Verismo und
nahm so wichtige Komponisten wie Ponchielli, Giordano und Mascagni
voraus. Daher ist es sehr erstaunlich, dass Lo Schiavo bis jetzt noch
nicht den Weg auf die deutschen Opernbühnen geschafft hat. Nur das
Stadttheater Bern wagte 1977 die europäische Erstaufführung dieser
großen tragischen Oper. Höchste Zeit also, dass dieser zu Unrecht
vergessene Komponist auch in Deutschland einen festen Platz findet. Das
Stadttheater Gießen macht hier einen lobenswerten Anfang.
Erzählt wird die Geschichte des Sklaven Iberè, des Anführers der
Tamojo, eines brasilianischen Ureinwohnerstammes, zur Zeit der Kämpfe
zwischen Portugiesen und Franzosen um 1567. Dieser arbeitet zunächst
auf der Plantage des portugiesischen Grafen Rodrigo. Der Graf
verheiratet ihn mit der Sklavin Ilàra, die den Sohn des Grafen,
Americo, liebt, und verkauft beide Sklaven an die französische Gräfin
de Boissy, damit sein Sohn Ilàra vergisst. Die Gräfin lässt bei einem
rauschenden Fest alle Sklaven frei, und so landen Iberè und Ilàra in
bitterster Armut, was Iberè veranlasst, sich dem Kampf gegen die
portugiesischen Besatzer anzuschließen. Während Iberè verzweifelt um
die Liebe seiner Frau kämpft, kann Ilàra ihren Americo, dem sie ewige
Treue geschworen hat, nicht vergessen und weist die Avancen ihres
Ehemannes konstant zurück. Als Americo schließlich den Rebellen in die
Hände fällt, hat Iberè die Möglichkeit, den Rivalen auszuschalten. Aber
aus Liebe zu Ilàra lässt er ihn frei und ermöglicht ihm gemeinsam mit
seiner Frau die Flucht. Er selbst opfert sich den aufgebrachten
Kampfgefährten.
Regisseur Joachim Rathke hat die Handlung des Stückes in die Jetztzeit
verlegt. Zwar ist zu diesem Zeitpunkt die Sklaverei in Brasilien schon
lange abgeschafft, aber durch eine neue, nicht weniger perfide Art der
Unterdrückung ersetzt worden: der Lohnsklaverei. So wird während der
Ouvertüre ein riesiger Theaterprospekt mit einem Foto der berühmten
brasilianischen Statue Cristo Redentor auf dem Berg Corcovado sichtbar,
die in der linken Hand einen Kaffeebecher hält. Über dem Prospekt
befindet sich die brasilianische Reklame: "Se deus tomasse café, o café
redentor" ("Wenn Gott einen Kaffee trinkt, dann im Café Redentor"). Die
Plantage ist also in eine Fabrik umgewandelt worden, in der
Kaffeebohnen für die Touristenmetropole am Zuckerhut produziert werden.
Die sich in der Fabrikhalle abspielende Handlung dürfte aber doch eher
aus vergangener Zeit stammen. Wenn sich der Bühnenprospekt hebt, werden
nämlich Arbeiter in gelben Jacken sichtbar, die vor den Augen des
Aufsehers Gianfèra (Chi Kyung Kim) gerade eine Sklavin vergewaltigt
haben. In großem Kontrast dazu steht eine Marienstatue in einer Nische
auf der linken Seite der Bühne. Die Sklaven tragen hellblaue Kittel,
mit einer goldenen Kaffeebohne. Als Iberè (Adrian Gans) vom Aufseher
beschuldigt wird, unter den Sklaven einen Aufstand provozieren zu
wollen, und ausgepeitscht werden soll, greift Americo (Adrian Xhema)
ein. In einem blau gestreiften Polohemd mit einem Golfschläger in der
Hand tritt er zwar eher wie ein Dandy auf, beweist aber Gianfèra
gegenüber absolute Autorität und verhindert eine Züchtigung Iberès. Der
folgende Freundschaftsschwur zwischen den beiden erinnert doch sehr an
Marquis Posa und Don Carlo in Verdis gleichnamiger Oper. Auch das
innige Duett zwischen Americo und der Sklavin Ilàra (Virginia Todisco),
in dem sie sich ewige Treue schwören, stellt einen musikalischen
Glanzpunkt des ersten Aktes dar, den Virginia Todisco und Adrian Xhema
mit einer sehr romantischen Untermalung des Orchesters unter Carlos
Spierer zum besten geben. Der Revolver, den Americo Ilàra als Zeichen
der Treue übergibt, wird im weiteren Verlauf der Handlung noch von
Bedeutung sein. Nach so viel Romantik endet der erste Akt ziemlich
brutal, wenn der Graf Rodrigo (Stefan Bootz) Ilàra mit Iberè
zwangsverheiratet und verkauft.
Der zweite Akt spielt bei den französischen Besatzern. Bühnenbildner
Bernhard Niechotz hat dafür die Fabrikhalle des ersten Aktes
größtenteils beibehalten. Die Sklaverei ist also die gleiche, egal, ob
man den Portugiesen oder den Franzosen dient. Dennoch wird durch das
rosafarbene feine Mobiliar und das Outfit der Gräfin di Boissy (Carla
Maffioletti) deutlich, dass hier schon ein anderer Wind weht. Man gibt
sich wesentlich feiner. Die Gräfin zwitschert wie ein Singvögelchen
zarte Koloraturen, wobei Carla Maffioletti in den Höhen an ihre Grenzen
stößt. Ihr Spiel ist dabei aber bezaubernd schön. In Anlehnung an die
französische Grand Opéra hat Gomes an dieser Stelle auch ein die
Handlung retardierendes Ballett eingebaut, was ebenfalls im Kontrast
zum ersten Akt steht. Warum Joachim Rathke an dieser Stelle eine
Sambagruppe auftreten lässt, bleibt diskutabel, zumal die Musik
einerseits in keiner Weise an Samba erinnert und andererseits die den
Samba andeutenden Bewegungen zur Musik ziemlich aufgesetzt wirken. Ein
regelrecht großartiges Tableau schafft Rathke aber in der Szene, in der
die Gräfin die Freilassung der Sklaven beschließt. In der gleichen
Kostümierung wie die in der Nische befindliche Marienstatue schwebt
Carla Maffioletti in einem goldenen Käfig über die Bühne. Die
übertriebenen Gesten, die sie dabei ausführt, werden vom Chor
übernommen. Zynisch wirkt, dass ihr Schleier den gleichen Blauton hat
wie die Kittel der Sklaven. Die Sklaven legen zwar die Kittel ab und
werden in ein grelles Sonnenlicht entlassen. Die so erlangte Freiheit
wird ihnen aber nichts nützen.
Nach der Pause zeigt eine Müllkippe auf einem schwarz-weißen
Bühnenprospekt wohin die Freiheit Iberè und Ilàra geführt hat: ins
Elend. Sie hausen nun in einem ausgetrockneten Kanal, wobei das
überdimensionale Kanalrohr den Eingang zu ihrer Wohnung darstellt.
Virginia Todisco besingt mit betörend schönem Sopran von ihrer
Sehnsucht nach Americo, den sie verzweifelt wiedersehen möchte. Dabei
hält sie die Pistole als Pfand der Liebe in der Hand und träumt sich
zwischen der auf der Müllkippe aufgehängten Wäsche in eine andere Welt.
Auch Iberè ist unglücklich, weil sie seine Liebe nicht erwidert und
noch nicht einmal seine Freundschaft annimmt. Stattdessen stellt sie es
ihm frei, sie mit Americos Pistole zu erschießen, die er nach der
Auseinandersetzung an sich nimmt. Sehr bewegend bricht Adrians Gans'
voluminöser Bariton in der folgenden Arie, wenn er in seiner
Verzweiflung zu weinen beginnt. Schließlich bleibt ihm nichts anderes
übrig, als sich den Rebellen anzuschließen. Als Zeichen des Aufstandes
tragen alle rote Kapuzenpullis. Und wieder taucht der Blauton der
Sklaverei auf: dieses Mal in Form der Fahnen, die aus blauen Mülltüten
bestehen.
Als Übergang vom dritten zum vierten Akt folgt nun ein Zwischenspiel,
dass dem berühmten Intermezzo aus der Cavalleria Rusticana in nichts
nach steht. Mit Ilàras Kleid in den Armen träumt Iberè von einer
glücklichen Zukunft mit seiner Frau. Die poetische Naturbeschreibung,
die in diesem Interludium die Morgendämmerung ankündigt, scheint eine
Prise "Brasilianità" in sich zu bergen. Joachim Rathke lässt Kinder
auftreten, die nach einem kurzen Spiel auf der Müllkippe die
herumliegenden Müllsäcke aufpusten und wie Luftballons steigen lassen:
eine Illusion von einer besseren Welt. Aus diesem Traum wird Iberè
gerissen, als die Rebellen Americo gefangen nehmen. Jetzt hätte Iberè
Gelegenheit, den Rivalen auszuschalten. Aber Ilàra will lieber mit
Americo sterben. In dieser Ausweglosigkeit ermöglicht Iberè den
Liebenden die Flucht. Er selbst bleibt zurück mit dem Pfand der Liebe,
der Pistole Americos. Mit dieser richtet er sich, als sich der wütende
Mob auf ihn stürzen will.
Gesanglich bewegt sich die Aufführung auf sehr hohem Niveau. Virginia
Todisco übertönt mit strahlendem Sopran als Ilàra in den Tutti sowohl
den Chor als auch das fulminant aufspielende Orchester. In den
lyrischen Passagen gelingen ihr ebenfalls sehr bewegende Momente.
Adrian Xhema, Gast vom Staatstheater am Gärtnerplatz in München, ruft
mit der vielleicht einzigen bekannten Arie "Quando nascesti tu" im 2.
Akt den ersten Szenenapplaus hervor, da er diese Arie zwar mimisch
etwas angestrengt, aber stimmlich hervorragend bewältigt. Auch im
ersten und letzten Akt glänzt er mit seinem kräftigen Tenor. Stimmlich
und optisch eine Idealbesetzung ist Adrian Gans als Iberè. Mit sehr
fundiertem Bariton macht er die Titelpartie zum Sympathieträger des
Stückes. Denn auch wenn es der operntypische Konflikt zwischen Tenor,
Sopran und Bariton ist, muss man bei diesem Werk festhalten, dass der
Bariton ausnahmsweise mal nicht der Böse ist. Chor und Extrachor unter
der Leitung von Jan Hoffmann ertönen sehr homogen, klingen in einzelnen
Passagen jedoch fast zu voluminös für das kleine Haus. Die
Ensemblemitglieder Stephan Bootz als Conte Rodrigo und Goitacà, Carla
Maffioletti als Contessa di Boissy und Chi Kyung Kim als Gianfèra
runden die hervorragende Sängerleistung ab. Carlos Spierer zaubert aus
dem Orchestergraben einen voluminösen Klangteppich, der italienischer
nicht klingen könnte, und wechselt zwischen lyrischen Passagen in den
Arien und Duetten, großen Tableaus in den Chorpassagen und purem
Verismo in den Zwischenstücken. So gibt es am Ende lang anhaltenden und
verdienten Applaus für alle Beteiligten.
FAZIT
Dieses Werk könnte die Wiederentdeckung des Jahres werden. Dem
Stadttheater Gießen ist wieder einmal ein ganz großer Coup gelungen.
Wenn Gott Kaffee tränke, griffe er zu "Erlöserkaffee" - so die
Werbemasche jenes Konzerns, der mit der braunen Bohne gute Geschäfte
macht. Nicht zuletzt, weil er auf billige Arbeiter, also moderne
Sklaven zurückgreifen kann. Das maximiert den Profit enorm.
Ausbeutung und Unterdrückung stehen im Zentrum von Lo Schiavo, der
Geschichte von Iberè, der gegen die bestehenden Verhältnisse
rebelliert. Der Brasilianer Antonio Carlos Gomes hat sie in eine Oper
gegossen, die 1889 in Rio de Janeiro uraufgeführt wurde. In Gießen ist
das Werk nun als deutsche Erstaufführung auf der Bühne zu erleben.
Die Passion des afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinents ist
lang. Und deshalb versucht Joachim Rathke, dem konkreten Drama um Iberè
eine überzeitliche Dimension zu geben, legt den Schwerpunkt aber aufs
Heute. Die Kaffeefabrik (Bühne: Bernhard Niechotz) könnte aus dem 19.
Jahrhundert stammen, die uniformierten Arbeiterinnen werden von ebenso
uniformierten Wachmännern drangsaliert. Der gesellschaftliche
Konfliktstoff liegt auf der Hand, hinzu kommt selbstverständlich eine
Liebesgeschichte: Americo, der Sohn des Fabrikbesitzers verliebt sich
in Ilàra, die einfache aber selbstbewusste Arbeiterin. Liebe ist's von
beiden Seiten aus, doch Americos Vater ist dagegen, schickt seinen Sohn
als Offizier in den Krieg und lässt Ilàra zwangsverheiraten - mit
Iberè. Das ist reichlich Konfliktpotenzial und Stoff für große Oper.
Und genau das ist Gomes' Lo Schiavo (Der Sklave) auch.
Dass Gomes, 1836 in Brasilien geboren, seine wesentlichen Impulse als
Komponist in Italien bekam, ist unüberhörbar. Schon gleich zu Beginn
lässt er den Orchesterklang saft- und kraftvoll rauschen,
instrumentiert virtuos und mit großer Farbigkeit, nutzt ganz
unterschiedlich gestaltete Ensembles (Duette, Terzette, große
Chorszenen), um starke Emotionen erfahrbar und erlebbar zu machen -
Musik, die auf Verdi zurückblickt und Puccini schon ein wenig erahnen
lässt, Klänge, in denen man als Zuhörer sofort "drin sitzt". Und
vielleicht hätte Lo Schiavo für Brasilien so etwas Ähnliches werden
können wie Verdis Nabucco für Italien: eine Botschaft vom Humanum. Doch
aufgrund äußerer Umstände kam Gomes' Opus statt ein Jahr vor erst ein
Jahr nach Abschaffung der Sklaverei in Brasilien heraus...
Doch weil die Verhältnisse ja im 21. Jahrhundert strukturell nicht viel
besser sind als damals, hat Lo Schiavo auch heute noch seine
Berechtigung. Die Plantagenarbeiter von einst sind jetzt mit
Maschinengewehren ausgestattet und rebellieren gegen die Oligarchen,
die ihrem Reichtum frönen. Americo steht für all jene, die ihr Gewissen
entdecken, sich von der upper class abwenden und ihr Herz fürs Volk
entdecken. Wie die aus der Kolonialzeit übrig gebliebene Gräfin di
Boissy: sie schenkt in einer theatralischen Mitleidsszene "ihren"
Sklaven die Freiheit, von der Regie herrlich kitschig überzeichnet -
wie überhaupt die Mentalität der brasilianischen Bevölkerung, deren
naive Frömmigkeit, aber auch dessen Wille zum Umsturz ganz gut
eingefangen ist. Mitunter schießt das Regieteam übers Ziel hinaus, etwa
dort, wo ein federbepuscheltes Samba-Sextett über die Bretter fegt.
Etwas pathetisch auch der trostlose Favela-Hügel irgendwo an der
Mündung eines trockenen Abflussrohres: dies die zweifelhafte "neue
Heimat" der soeben in die Freiheit Entlassenen.
Das Ende von Lo Schiavo ist, dank einiger Missverständnisse, tragisch:
Americo bekommt seine Ilàra, nachdem Iberè ihn aus der Hand der
gewaltbereiten Rebellen befreit. Er selbst weiß, dass diese Rebellen
ihn deshalb als Verräter ansehen - und richtet den Revolver gegen sich.
Das sind dramatisch-verzweifelte Augenblicke dreier Menschen, hinter
denen die Geschichte des aufbegehrenden Volkes dann deutlich
zurücktritt.
Die Gießener Inszenierung trumpft auf mit einer enormen musikalischen
Qualität: das Philharmonische Orchester unter Carlos Spierer liefert
subtile lyrische Farben (Streicher, Holz) genauso wie eruptive
Ausbrüche mit massivem Blechbläsereinsatz. Ganz fabelhaft wird
gesungen, allen voran von Adrian Gans in der Titelrolle - ein
glanzvoller, starker Bariton mit üppiger Farbpalette, mit einer Präsenz
auf der Bühne, die rundherum überzeugt. Das gilt nicht minder für
Adrian Xhema als Americo, der seinen völlig mühelos schwingenden Tenor
brillant bis in höchste Höhen führt und über das absolut passende
helle, obertonreiche Timbre verfügt. Virginia Todisco verströmt ihren
dramatischen Sopran mit dunkelroter Glut, mal verzweifelt, mal voller
Rache, mal voll des Glücks - ein zutiefst glaubwürdiges Bild der Hin-
und Hergerissenen. Stephan Bootz, seit letzter Spielzeit am Gießener
Haus, lässt (wieder einmal) aufhorchen, schlüpft anfangs in die Rolle
des Rodrigo, des Herrn über die Kaffeefabrik: mit (beabsichtigt)
bebendem Vibrato und (beabsichtigt) rustikalem Timbre. Als Goitacà, den
Anführer der befreiten Sklaven, macht er stimmlich mit raumgreifendem
Bass unmissverständlich klar, wohin der Weg der Rebellen zu führen hat.
Carla Maffioletti, ebenfalls seit 2009 im Ensemble, ist als Gräfin di
Boissy völlig rollen- und typengerecht eingesetzt, wenngleich ihr
sicher geführter und klangschöner Sopran mitunter etwas verhalten
wirkt. Den Gianfèra, Anführer der Security-Abteilung, gibt Chi Kyung
Kim durch und durch verlässlich; die weiteren kleineren Rollen sind bei
Paul Przybilski, Sang-Kiu Han, Antje Tiné und Vito Tamburro in guten
Händen und Kehlen. In ausgezeichneter Verfassung zeigen sich Chor und
Extrachor (Einstudierung Jan Hoffmann), Sambagruppe und
Kinderstatisterie sorgen jeweils für typisches Kolorit.
Das Premierenpublikum ist stolz auf die bemerkenswerte Leistung sowohl
im Orchestergraben als auch auf der Bühne und hat Freude an dieser
Wiederentdeckung. Davon hat es in den letzten Jahren immer wieder
welche gegeben, sie sind, auch aus dem Blickwinkel der überregionalen
Berichterstattung, ein "Markenzeichen" des Stadttheaters Gießen
geworden. Das ist gut.
Ovationen für Premiere der Oper "Lo Schiavo"
Gießen. "Lo Schiavo (Der Sklave)" heißt
die Oper des Brasilianers Antonio Carlos Gomes (1836 bis 1896), die am
Samstagabend im Stadttheater Premiere gefeiert hat. Ganz klar: Dem Haus
ist damit der große Wurf gelungen.
Dies nicht nur, weil unter der Regie von Joachim Rathke und der
musikalischen Leitung von Carlos Spierer ein opulentes und mitreißendes
Gesamtkunstwerk entstanden ist. Sondern auch, weil die Gießener
Pionierarbeit geleistet haben. Denn am Samstag war das Stück, das 1889
uraufgeführt wurde, erstmals auf einer deutschen Bühne zu sehen. Am
Ende gab es stehende Ovationen.
Liebe, Unterdrückung und Rebellion - das ist der Stoff, aus dem die
großen Tragödien sind. "Lo Schiavo" macht da keine Ausnahme. Denn
obwohl sich die Liebe am Ende des Stücks zumindest in Teilen
verwirklicht, geschieht sie doch um den Preis eines Opfers.
Von Anfang an schwebt dieses tragische Schicksal über der Handlung, die
bei Gomes im Brasilien des 16. Jahrhunderts spielt, in der Gießener
Inszenierung jedoch ins 21. Jahrhundert verlegt wurde.
Geschichte spielt im Heute
Am Gehalt ändert das jedoch nichts: In Brasilien herrschen Sklaverei
und Unterdrückung - man denke dabei nur an Armut und Lohndumping
unserer Tage. Il Conte Rodrigo, gespielt von Stephan Bootz, beutet
Sklaven aus, doch sein Sohn Americo (Adrian Xhema) verliebt in die
schöne Sklavin Ilàra (Virginia Todisco).
Um diese nicht standesgemäße Verbindung zu verhindern, schickt Rodrigo
seinen Sohn zum Militärdienst und Ilàra wird kurzerhand mit Iberè,
Adrian Gans stellt den rebellischen Sklaven und Stammesführer dar,
verheiratet. Mehr noch: Der Vater plant die Hochzeit Americos mit der
Contessa di Boissy (Carla Maffioletti), doch als sie erfährt, dass ihr
Angebeteter eine andere liebt, zieht sie sich zurück und lässt
kurzerhand ihre Sklaven frei.
Der Keim der Rebellion, deren Anführer Iberè wird, ist gelegt. Und als
Americo, der Iberè einst vor einer Grausamkeit bewahrt hatte, von der
Heirat mit Ilàra erfährt, werden beide zu Gegnern. Am Ende stehen sie
sich gegenüber: Iberè als Anführer der Aufständischen, Americo als ihr
Gefangener. Doch um der großen Liebe Ilàras und Americos eine Chance zu
geben, beschließt Iberè, sich zu opfern und in den Tod zu gehen.
Eine berührende Geschichte, die das Stadttheater als glänzendes und
opulentes Gesamtkunstwerk umgesetzt hat. Es stimmt einfach alles:
Angefangen beim Bühnenbild (Bernhard Niechotz), das in den ersten
beiden Akten ein großes Fabriktor zeigt und in den Akten 3 und 4 durch
einen Slum ersetzt wird.
Die Transformation ins 21. Jahrhundert hat Lukas Noll im Bereich der
Kostüme beispielsweise durch den Einsatz von Turnschuhen, Poloshirts
und Handfeuerwaffen gekonnt bewerkstelligt. Eindrucksvoll: Am Ende des
zweiten Aktes hat Gomes folkloristische Tänze vorgesehen, die das
Stadttheater als Samba in Karnevalskostümierung mit Federschmuck
umgesetzt hat.
Ein ums andere Mal beweisen die Schauspieler und Sänger ihre große
Klasse - allen voran Adrian Gans und Virginia Todisco. Und was soll man
zu Carlos Spierer und dem Philharmonischen Orchester noch sagen, außer:
Extraklasse.
Insgesamt haben alle Akteure, unter ihnen Chor und Extrachor des
Stadttheaters, ein fantastisches und mitreißendes Gesamtkunstwerk auf
die Bühne gebracht, zwar in italienischer Sprache, aber mit deutschen
Übertiteln.
Weitere Termine: 11. und 25. Februar, 19. und 31. März, 24. April und
21. Mai, jeweils um 19.30 Uhr.