Aus "Orpheus" 3 + 4/2011

Michael Arndt: "Erst äußere, dann innere Sklaverei"

Verdi war eines der großen Vorbilder des 23 Jahre jüngeren Antonio Carlos Gomes und hat diesen sehr gelobt. So komponierte der Brasilianer den Großteil seiner Bühnenwerke in und für Italien. Auch seine vorletzte Oper "Lo Schiavo" hat ein italienisches Libretto, wurde aber vom Theater in Bologna abgelehnt, was allerdings die triumphale Uraufführung 1889 in Rio de Janeiro ermöglichte - ein Jahr nachdem die Sklaverei in Brasilien abgeschafft worden war. Gomes hatte also einen aktuellen Stoff vertont, auch wenn der Textdichter die Geschichte im 16.Jahrhundert zur Zeit der Kämpfe zwischen Portugiesen und Franzosen angesiedelt hat.
Der Regisseur der deutschen Erstaufführung am Stadttheater Gießen, Joachim Rathke, wiederum lässt das Stück in der Gegenwart spielen - aus den indianischen Sklaven werden moderne Lohnarbeiter, die bei einem Kaffeeproduzenten schuften müssen. In die Freiheit entlassen und somit ihres Einkommens beraubt, hausen sie in der Nähe einer Müllhalde, von wo aus sie als Kapuzenshirts tragende Jugendgang zum Kampf gegen die Kapitalisten aufbrechen.
Findet Rathke für die äußere Sklaverei eher plakative Bilder (Bühne: Bernhard Niechotz, Kostüme: Lukas Noll), so widmet er sich mit eindringlicher Personenführung der inneren Sklaverei, deren Ketten jeden der Protagonisten gefangen halten. Den stärksten Eindruck hinterlässt Adrian Gans in der Titelpartie - eine Idealbesetzung des Sklaven Iberè von imposanter Statur und gesegnet mit einem Bariton, der stählern-kraftvoll das Orchester überstrahlt, aber auch mit warmem Timbre ergreifend die Seelenqualen des unerwidert Liebenden wiedergibt. Denn die mit Iberè zwangsverheiratete Sklavin Ilàra liebt den Sohn des Kaffeeplantagenbesitzers Conte Rodrigo, Americo, in den wiederum sich die französische Gräfin di Boissy verguckt hat. Sie ist es, die einer Madonna gleich auf einer von Samba-Tänzerinnen aufgemischten Wohltätigkeitsparty den Sklaven die Freiheit gibt. Adrian Xhema als Americo hat alles, was das Publikum von einem Tenor im italienischen Fach erwartet: Geschmeidigkeit und vor allem Strahlkraft. (…) Carla Maffioletti als französische Gräfin lässt ihre Koloraturen funkeln. Eindringlich auch mit markantem Bass Stephan Bootz in gleich zwei Partien - Il Conte Rodrigo und Goitacà, Anführer der befreiten Sklaven. Für die hervorragende Einstudierung der machtvollen Chöre ist Jan Hoffmann verantwortlich. Am Pult des Philharmonischen Orchesters sorgt Carlos Spierer für feurige Dramatik und allzu krachende Aktschlüsse, widmet sich aber auch mit Hingabe dem koloristischen Reiz der "Alvorada", welche den Sonnenaufgang im brasilianischen Urwald, hier über der Müllhalde, stimmungsvoll ausmalt.
Ist "Lo Schiavo" nun eine Entdeckung für Opernfans? Auf jeden Fall. Die Premiere erntete enthusiastischen Applaus.



Aus "Der Neue Merker Wien", 11.2.2011

Uwe Pacolt: "Brasilianische Oper in Gießen"

Eine besondere Opernrarität steht zurzeit im Stadttheater Gießen auf dem Programm: "Lo schiavo" ("Der Sklave") des brasilianischen Komponisten Antônio Carlos Gomes (1836 - 1896), von dem zuletzt in Europa die Freiheitsoper "Salvator Rosa" in Braunschweig zu sehen war. Die Uraufführung von "Lo schiavo" fand 1889 in Rio de Janeiro statt. Auch diese Oper ist unüberhörbar eine Hymne an die Freiheit. Inspiriert von den kolonialen Missständen in seinem Heimatland schuf Gomes mit "Lo schiavo" ein Werk, das die Menschen in Brasilien wachrütteln sollte.
Die Handlung der Oper, deren Libretto von Rodolfo Paravicini stammt, spielt in Brasilien im Jahr 1567. Über das Land herrschen die Portugiesen, die Indios dienen ihnen als Sklaven. So steht die Liebe von Americo, dem Sohn eines Plantagenbesitzers, und der Sklavin Ilàra unter keinem guten Stern. Sie schwören zwar einander ewige Liebe, doch wird Ilàra gezwungen, den Sklaven Iberè zu heiraten. - Als die Gräfin di Boissy, die Americo liebt, erfährt, dass er nicht sie, sondern Ilàra liebe, entlässt sie während eines Festes ihre Sklaven in die Freiheit und plädiert für die Abschaffung der Sklaverei. Unter den Freigelassenen befinden sich auch Ilàra und Iberè, dem Americo Rache schwört. - Bei einer Sklavenrevolte trifft Americo seine Geliebte wieder, stößt aber auch auf Iberè, den Anführer der Aufständischen. Zwischen Freiheitsdrang, Opferbereitschaft und Todessehnsucht schwankend, stehen nun alle drei vor der wichtigsten Entscheidung ihres Lebens. Obwohl Iberè Gelegenheit hätte, seinen Rivalen Americo, den Ilàra immer noch liebt, zu töten, verhilft er den beiden zur Flucht. Er richtet sich schließlich vor seinen aufgebrachten Kampfgefährten selbst.
Joachim Rathke inszenierte die Oper mit dramatischer Pranke als Plädoyer gegen jedwede Sklaverei, wobei er dem Chor besondere Aufmerksamkeit widmete. Das eher nüchtern gehaltene Bühnenbild, dessen einziger "Schmuck" ein großer, bunter Altar war, schuf Bernhard Niechotz, die Kostüme - erotisch bei Ilàra, "Einheitstracht" bei den Sklaven und Aufständischen, elegant und prächtig bei der Gräfin und ihren Tänzerinnen - entwarf Lukas Noll.
Die Titelrolle, den Sklaven Iberè, stellte der junge amerikanische Bariton Adrian Gans dar. Großgewachsen und ausgestattet mit kräftiger Stimme hatte er eine starke Bühnenpräsenz, die er voll auszuspielen verstand. (...)
Adrian Xhema, der albanische Tenor - seit Jahren Ensemblemitglied am Staatstheater am Gärtnerplatz in München -, strapazierte seine Tenorstimme als Americo (...) übermäßig. Die italienische Sopranistin Virginia Todisco - eine Augenweide als seine Geliebte Ilàra - hielt stimmlich voll mit. Der Bass Stephan Bootz, der sowohl den Conte Rodrigo wie auch Goitacà, den Anführer der befreiten Sklaven gab, hielt sich als Rodrigo eher zurück. Ausgezeichnet die brasilianische Sopranistin Carla Maffioletti als Gräfin di Boissy. Sie spielte ihre "vornehme" Rolle mit Augenzwinkern und begeisterte auch bei ihren Koloraturen durch ihre gute Stimmführung. (...)
Zu erwähnen wäre noch der Bass Chi Kyung Kim, der den Aufseher Gianfèra martialisch spielte und sang, sowie der Chor und Extrachor des Stadttheaters Gießen, der stimmkräftig (fast eine Untertreibung!) agierte und das Bühnengeschehen auch schauspielerisch bereicherte (Leitung: Jan Hoffmann). Für einen farbigen Aufputz sorgte die Sambagruppe mit ihren prächtigen Kostümen und ihrem Tanz auf dem Fest der Gräfin. (...)



Aus "Online Musik Magazin", 31.1.2011

Thomas Molke: "Italienischer Verismo aus Italien"

Brasilien gilt zwar durchaus als Land der Musik. Dabei mag man aber eher an Samba-Klänge und Karneval in Rio de Janeiro denken, weniger an die Oper. Dieser Eindruck täuscht jedoch, denn das 19. Jahrhundert hat einen sehr bedeutenden klassischen Komponisten hervorgebracht, der nach jahrelangen Studien und beachtlichen Erfolgen in Italien in seine Heimat zurückkehrte und die europäische Oper dort salonfähig machte: Antônio Carlos Gomes. Zurück in Brasilien widmete er sich den Themen seiner Heimat und schuf ein Werk, welches zwar erst ein Jahr nach der Unterzeichnung der "Lei Áurea", die die Sklaverei im größten der südamerikanischen Länder zumindest auf dem Papier endgültig abschaffte, zur Uraufführung kam, dem enthusiastischen Freiheitskampf der Brasilianer aber kaum einen besseren musikalischen Ausdruck geben konnte: Lo Schiavo. Dabei komponierte Gomes, geprägt von Größen wie Donizetti, Bellini, Mercadante und vor allem Verdi, auf der Schwelle zwischen gefühlsgetränkter italienischer Romantik und purem Verismo und nahm so wichtige Komponisten wie Ponchielli, Giordano und Mascagni voraus. Daher ist es sehr erstaunlich, dass Lo Schiavo bis jetzt noch nicht den Weg auf die deutschen Opernbühnen geschafft hat. Nur das Stadttheater Bern wagte 1977 die europäische Erstaufführung dieser großen tragischen Oper. Höchste Zeit also, dass dieser zu Unrecht vergessene Komponist auch in Deutschland einen festen Platz findet. Das Stadttheater Gießen macht hier einen lobenswerten Anfang.
Erzählt wird die Geschichte des Sklaven Iberè, des Anführers der Tamojo, eines brasilianischen Ureinwohnerstammes, zur Zeit der Kämpfe zwischen Portugiesen und Franzosen um 1567. Dieser arbeitet zunächst auf der Plantage des portugiesischen Grafen Rodrigo. Der Graf verheiratet ihn mit der Sklavin Ilàra, die den Sohn des Grafen, Americo, liebt, und verkauft beide Sklaven an die französische Gräfin de Boissy, damit sein Sohn Ilàra vergisst. Die Gräfin lässt bei einem rauschenden Fest alle Sklaven frei, und so landen Iberè und Ilàra in bitterster Armut, was Iberè veranlasst, sich dem Kampf gegen die portugiesischen Besatzer anzuschließen. Während Iberè verzweifelt um die Liebe seiner Frau kämpft, kann Ilàra ihren Americo, dem sie ewige Treue geschworen hat, nicht vergessen und weist die Avancen ihres Ehemannes konstant zurück. Als Americo schließlich den Rebellen in die Hände fällt, hat Iberè die Möglichkeit, den Rivalen auszuschalten. Aber aus Liebe zu Ilàra lässt er ihn frei und ermöglicht ihm gemeinsam mit seiner Frau die Flucht. Er selbst opfert sich den aufgebrachten Kampfgefährten.
Regisseur Joachim Rathke hat die Handlung des Stückes in die Jetztzeit verlegt. Zwar ist zu diesem Zeitpunkt die Sklaverei in Brasilien schon lange abgeschafft, aber durch eine neue, nicht weniger perfide Art der Unterdrückung ersetzt worden: der Lohnsklaverei. So wird während der Ouvertüre ein riesiger Theaterprospekt mit einem Foto der berühmten brasilianischen Statue Cristo Redentor auf dem Berg Corcovado sichtbar, die in der linken Hand einen Kaffeebecher hält. Über dem Prospekt befindet sich die brasilianische Reklame: "Se deus tomasse café, o café redentor" ("Wenn Gott einen Kaffee trinkt, dann im Café Redentor"). Die Plantage ist also in eine Fabrik umgewandelt worden, in der Kaffeebohnen für die Touristenmetropole am Zuckerhut produziert werden. Die sich in der Fabrikhalle abspielende Handlung dürfte aber doch eher aus vergangener Zeit stammen. Wenn sich der Bühnenprospekt hebt, werden nämlich Arbeiter in gelben Jacken sichtbar, die vor den Augen des Aufsehers Gianfèra (Chi Kyung Kim) gerade eine Sklavin vergewaltigt haben. In großem Kontrast dazu steht eine Marienstatue in einer Nische auf der linken Seite der Bühne. Die Sklaven tragen hellblaue Kittel, mit einer goldenen Kaffeebohne. Als Iberè (Adrian Gans) vom Aufseher beschuldigt wird, unter den Sklaven einen Aufstand provozieren zu wollen, und ausgepeitscht werden soll, greift Americo (Adrian Xhema) ein. In einem blau gestreiften Polohemd mit einem Golfschläger in der Hand tritt er zwar eher wie ein Dandy auf, beweist aber Gianfèra gegenüber absolute Autorität und verhindert eine Züchtigung Iberès. Der folgende Freundschaftsschwur zwischen den beiden erinnert doch sehr an Marquis Posa und Don Carlo in Verdis gleichnamiger Oper. Auch das innige Duett zwischen Americo und der Sklavin Ilàra (Virginia Todisco), in dem sie sich ewige Treue schwören, stellt einen musikalischen Glanzpunkt des ersten Aktes dar, den Virginia Todisco und Adrian Xhema mit einer sehr romantischen Untermalung des Orchesters unter Carlos Spierer zum besten geben. Der Revolver, den Americo Ilàra als Zeichen der Treue übergibt, wird im weiteren Verlauf der Handlung noch von Bedeutung sein. Nach so viel Romantik endet der erste Akt ziemlich brutal, wenn der Graf Rodrigo (Stefan Bootz) Ilàra mit Iberè zwangsverheiratet und verkauft.
Der zweite Akt spielt bei den französischen Besatzern. Bühnenbildner Bernhard Niechotz hat dafür die Fabrikhalle des ersten Aktes größtenteils beibehalten. Die Sklaverei ist also die gleiche, egal, ob man den Portugiesen oder den Franzosen dient. Dennoch wird durch das rosafarbene feine Mobiliar und das Outfit der Gräfin di Boissy (Carla Maffioletti) deutlich, dass hier schon ein anderer Wind weht. Man gibt sich wesentlich feiner. Die Gräfin zwitschert wie ein Singvögelchen zarte Koloraturen, wobei Carla Maffioletti in den Höhen an ihre Grenzen stößt. Ihr Spiel ist dabei aber bezaubernd schön. In Anlehnung an die französische Grand Opéra hat Gomes an dieser Stelle auch ein die Handlung retardierendes Ballett eingebaut, was ebenfalls im Kontrast zum ersten Akt steht. Warum Joachim Rathke an dieser Stelle eine Sambagruppe auftreten lässt, bleibt diskutabel, zumal die Musik einerseits in keiner Weise an Samba erinnert und andererseits die den Samba andeutenden Bewegungen zur Musik ziemlich aufgesetzt wirken. Ein regelrecht großartiges Tableau schafft Rathke aber in der Szene, in der die Gräfin die Freilassung der Sklaven beschließt. In der gleichen Kostümierung wie die in der Nische befindliche Marienstatue schwebt Carla Maffioletti in einem goldenen Käfig über die Bühne. Die übertriebenen Gesten, die sie dabei ausführt, werden vom Chor übernommen. Zynisch wirkt, dass ihr Schleier den gleichen Blauton hat wie die Kittel der Sklaven. Die Sklaven legen zwar die Kittel ab und werden in ein grelles Sonnenlicht entlassen. Die so erlangte Freiheit wird ihnen aber nichts nützen.
Nach der Pause zeigt eine Müllkippe auf einem schwarz-weißen Bühnenprospekt wohin die Freiheit Iberè und Ilàra geführt hat: ins Elend. Sie hausen nun in einem ausgetrockneten Kanal, wobei das überdimensionale Kanalrohr den Eingang zu ihrer Wohnung darstellt. Virginia Todisco besingt mit betörend schönem Sopran von ihrer Sehnsucht nach Americo, den sie verzweifelt wiedersehen möchte. Dabei hält sie die Pistole als Pfand der Liebe in der Hand und träumt sich zwischen der auf der Müllkippe aufgehängten Wäsche in eine andere Welt. Auch Iberè ist unglücklich, weil sie seine Liebe nicht erwidert und noch nicht einmal seine Freundschaft annimmt. Stattdessen stellt sie es ihm frei, sie mit Americos Pistole zu erschießen, die er nach der Auseinandersetzung an sich nimmt. Sehr bewegend bricht Adrians Gans' voluminöser Bariton in der folgenden Arie, wenn er in seiner Verzweiflung zu weinen beginnt. Schließlich bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich den Rebellen anzuschließen. Als Zeichen des Aufstandes tragen alle rote Kapuzenpullis. Und wieder taucht der Blauton der Sklaverei auf: dieses Mal in Form der Fahnen, die aus blauen Mülltüten bestehen.
Als Übergang vom dritten zum vierten Akt folgt nun ein Zwischenspiel, dass dem berühmten Intermezzo aus der Cavalleria Rusticana in nichts nach steht. Mit Ilàras Kleid in den Armen träumt Iberè von einer glücklichen Zukunft mit seiner Frau. Die poetische Naturbeschreibung, die in diesem Interludium die Morgendämmerung ankündigt, scheint eine Prise "Brasilianità" in sich zu bergen. Joachim Rathke lässt Kinder auftreten, die nach einem kurzen Spiel auf der Müllkippe die herumliegenden Müllsäcke aufpusten und wie Luftballons steigen lassen: eine Illusion von einer besseren Welt. Aus diesem Traum wird Iberè gerissen, als die Rebellen Americo gefangen nehmen. Jetzt hätte Iberè Gelegenheit, den Rivalen auszuschalten. Aber Ilàra will lieber mit Americo sterben. In dieser Ausweglosigkeit ermöglicht Iberè den Liebenden die Flucht. Er selbst bleibt zurück mit dem Pfand der Liebe, der Pistole Americos. Mit dieser richtet er sich, als sich der wütende Mob auf ihn stürzen will.
Gesanglich bewegt sich die Aufführung auf sehr hohem Niveau. Virginia Todisco übertönt mit strahlendem Sopran als Ilàra in den Tutti sowohl den Chor als auch das fulminant aufspielende Orchester. In den lyrischen Passagen gelingen ihr ebenfalls sehr bewegende Momente. Adrian Xhema, Gast vom Staatstheater am Gärtnerplatz in München, ruft mit der vielleicht einzigen bekannten Arie "Quando nascesti tu" im 2. Akt den ersten Szenenapplaus hervor, da er diese Arie zwar mimisch etwas angestrengt, aber stimmlich hervorragend bewältigt. Auch im ersten und letzten Akt glänzt er mit seinem kräftigen Tenor. Stimmlich und optisch eine Idealbesetzung ist Adrian Gans als Iberè. Mit sehr fundiertem Bariton macht er die Titelpartie zum Sympathieträger des Stückes. Denn auch wenn es der operntypische Konflikt zwischen Tenor, Sopran und Bariton ist, muss man bei diesem Werk festhalten, dass der Bariton ausnahmsweise mal nicht der Böse ist. Chor und Extrachor unter der Leitung von Jan Hoffmann ertönen sehr homogen, klingen in einzelnen Passagen jedoch fast zu voluminös für das kleine Haus. Die Ensemblemitglieder Stephan Bootz als Conte Rodrigo und Goitacà, Carla Maffioletti als Contessa di Boissy und Chi Kyung Kim als Gianfèra runden die hervorragende Sängerleistung ab. Carlos Spierer zaubert aus dem Orchestergraben einen voluminösen Klangteppich, der italienischer nicht klingen könnte, und wechselt zwischen lyrischen Passagen in den Arien und Duetten, großen Tableaus in den Chorpassagen und purem Verismo in den Zwischenstücken. So gibt es am Ende lang anhaltenden und verdienten Applaus für alle Beteiligten.

FAZIT
Dieses Werk könnte die Wiederentdeckung des Jahres werden. Dem Stadttheater Gießen ist wieder einmal ein ganz großer Coup gelungen.



Aus "www.Opernnetz.de", 31.1.2011

Christoph Schulte im Walde: "Liebe in Zeiten der Sklaverei"

Wenn Gott Kaffee tränke, griffe er zu "Erlöserkaffee" - so die Werbemasche jenes Konzerns, der mit der braunen Bohne gute Geschäfte macht. Nicht zuletzt, weil er auf billige Arbeiter, also moderne Sklaven zurückgreifen kann. Das maximiert den Profit enorm.
Ausbeutung und Unterdrückung stehen im Zentrum von Lo Schiavo, der Geschichte von Iberè, der gegen die bestehenden Verhältnisse rebelliert. Der Brasilianer Antonio Carlos Gomes hat sie in eine Oper gegossen, die 1889 in Rio de Janeiro uraufgeführt wurde. In Gießen ist das Werk nun als deutsche Erstaufführung auf der Bühne zu erleben.
Die Passion des afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinents ist lang. Und deshalb versucht Joachim Rathke, dem konkreten Drama um Iberè eine überzeitliche Dimension zu geben, legt den Schwerpunkt aber aufs Heute. Die Kaffeefabrik (Bühne: Bernhard Niechotz) könnte aus dem 19. Jahrhundert stammen, die uniformierten Arbeiterinnen werden von ebenso uniformierten Wachmännern drangsaliert. Der gesellschaftliche Konfliktstoff liegt auf der Hand, hinzu kommt selbstverständlich eine Liebesgeschichte: Americo, der Sohn des Fabrikbesitzers verliebt sich in Ilàra, die einfache aber selbstbewusste Arbeiterin. Liebe ist's von beiden Seiten aus, doch Americos Vater ist dagegen, schickt seinen Sohn als Offizier in den Krieg und lässt Ilàra zwangsverheiraten - mit Iberè. Das ist reichlich Konfliktpotenzial und Stoff für große Oper. Und genau das ist Gomes' Lo Schiavo (Der Sklave) auch.
Dass Gomes, 1836 in Brasilien geboren, seine wesentlichen Impulse als Komponist in Italien bekam, ist unüberhörbar. Schon gleich zu Beginn lässt er den Orchesterklang saft- und kraftvoll rauschen, instrumentiert virtuos und mit großer Farbigkeit, nutzt ganz unterschiedlich gestaltete Ensembles (Duette, Terzette, große Chorszenen), um starke Emotionen erfahrbar und erlebbar zu machen - Musik, die auf Verdi zurückblickt und Puccini schon ein wenig erahnen lässt, Klänge, in denen man als Zuhörer sofort "drin sitzt". Und vielleicht hätte Lo Schiavo für Brasilien so etwas Ähnliches werden können wie Verdis Nabucco für Italien: eine Botschaft vom Humanum. Doch aufgrund äußerer Umstände kam Gomes' Opus statt ein Jahr vor erst ein Jahr nach Abschaffung der Sklaverei in Brasilien heraus...
Doch weil die Verhältnisse ja im 21. Jahrhundert strukturell nicht viel besser sind als damals, hat Lo Schiavo auch heute noch seine Berechtigung. Die Plantagenarbeiter von einst sind jetzt mit Maschinengewehren ausgestattet und rebellieren gegen die Oligarchen, die ihrem Reichtum frönen. Americo steht für all jene, die ihr Gewissen entdecken, sich von der upper class abwenden und ihr Herz fürs Volk entdecken. Wie die aus der Kolonialzeit übrig gebliebene Gräfin di Boissy: sie schenkt in einer theatralischen Mitleidsszene "ihren" Sklaven die Freiheit, von der Regie herrlich kitschig überzeichnet - wie überhaupt die Mentalität der brasilianischen Bevölkerung, deren naive Frömmigkeit, aber auch dessen Wille zum Umsturz ganz gut eingefangen ist. Mitunter schießt das Regieteam übers Ziel hinaus, etwa dort, wo ein federbepuscheltes Samba-Sextett über die Bretter fegt. Etwas pathetisch auch der trostlose Favela-Hügel irgendwo an der Mündung eines trockenen Abflussrohres: dies die zweifelhafte "neue Heimat" der soeben in die Freiheit Entlassenen.
Das Ende von Lo Schiavo ist, dank einiger Missverständnisse, tragisch: Americo bekommt seine Ilàra, nachdem Iberè ihn aus der Hand der gewaltbereiten Rebellen befreit. Er selbst weiß, dass diese Rebellen ihn deshalb als Verräter ansehen - und richtet den Revolver gegen sich. Das sind dramatisch-verzweifelte Augenblicke dreier Menschen, hinter denen die Geschichte des aufbegehrenden Volkes dann deutlich zurücktritt.
Die Gießener Inszenierung trumpft auf mit einer enormen musikalischen Qualität: das Philharmonische Orchester unter Carlos Spierer liefert subtile lyrische Farben (Streicher, Holz) genauso wie eruptive Ausbrüche mit massivem Blechbläsereinsatz. Ganz fabelhaft wird gesungen, allen voran von Adrian Gans in der Titelrolle - ein glanzvoller, starker Bariton mit üppiger Farbpalette, mit einer Präsenz auf der Bühne, die rundherum überzeugt. Das gilt nicht minder für Adrian Xhema als Americo, der seinen völlig mühelos schwingenden Tenor brillant bis in höchste Höhen führt und über das absolut passende helle, obertonreiche Timbre verfügt. Virginia Todisco verströmt ihren dramatischen Sopran mit dunkelroter Glut, mal verzweifelt, mal voller Rache, mal voll des Glücks - ein zutiefst glaubwürdiges Bild der Hin- und Hergerissenen. Stephan Bootz, seit letzter Spielzeit am Gießener Haus, lässt (wieder einmal) aufhorchen, schlüpft anfangs in die Rolle des Rodrigo, des Herrn über die Kaffeefabrik: mit (beabsichtigt) bebendem Vibrato und (beabsichtigt) rustikalem Timbre. Als Goitacà, den Anführer der befreiten Sklaven, macht er stimmlich mit raumgreifendem Bass unmissverständlich klar, wohin der Weg der Rebellen zu führen hat. Carla Maffioletti, ebenfalls seit 2009 im Ensemble, ist als Gräfin di Boissy völlig rollen- und typengerecht eingesetzt, wenngleich ihr sicher geführter und klangschöner Sopran mitunter etwas verhalten wirkt. Den Gianfèra, Anführer der Security-Abteilung, gibt Chi Kyung Kim durch und durch verlässlich; die weiteren kleineren Rollen sind bei Paul Przybilski, Sang-Kiu Han, Antje Tiné und Vito Tamburro in guten Händen und Kehlen. In ausgezeichneter Verfassung zeigen sich Chor und Extrachor (Einstudierung Jan Hoffmann), Sambagruppe und Kinderstatisterie sorgen jeweils für typisches Kolorit.
Das Premierenpublikum ist stolz auf die bemerkenswerte Leistung sowohl im Orchestergraben als auch auf der Bühne und hat Freude an dieser Wiederentdeckung. Davon hat es in den letzten Jahren immer wieder welche gegeben, sie sind, auch aus dem Blickwinkel der überregionalen Berichterstattung, ein "Markenzeichen" des Stadttheaters Gießen geworden. Das ist gut.



Aus: "www.Mittelhessen.de", 31.1.2011

Stephan Scholz: "Stadttheater Gießen gelingt großer Wurf"

Ovationen für Premiere der Oper "Lo Schiavo"

Gießen. "Lo Schiavo (Der Sklave)" heißt die Oper des Brasilianers Antonio Carlos Gomes (1836 bis 1896), die am Samstagabend im Stadttheater Premiere gefeiert hat. Ganz klar: Dem Haus ist damit der große Wurf gelungen.
Dies nicht nur, weil unter der Regie von Joachim Rathke und der musikalischen Leitung von Carlos Spierer ein opulentes und mitreißendes Gesamtkunstwerk entstanden ist. Sondern auch, weil die Gießener Pionierarbeit geleistet haben. Denn am Samstag war das Stück, das 1889 uraufgeführt wurde, erstmals auf einer deutschen Bühne zu sehen. Am Ende gab es stehende Ovationen.
Liebe, Unterdrückung und Rebellion - das ist der Stoff, aus dem die großen Tragödien sind. "Lo Schiavo" macht da keine Ausnahme. Denn obwohl sich die Liebe am Ende des Stücks zumindest in Teilen verwirklicht, geschieht sie doch um den Preis eines Opfers.
Von Anfang an schwebt dieses tragische Schicksal über der Handlung, die bei Gomes im Brasilien des 16. Jahrhunderts spielt, in der Gießener Inszenierung jedoch ins 21. Jahrhundert verlegt wurde.
Geschichte spielt im Heute
Am Gehalt ändert das jedoch nichts: In Brasilien herrschen Sklaverei und Unterdrückung - man denke dabei nur an Armut und Lohndumping unserer Tage. Il Conte Rodrigo, gespielt von Stephan Bootz, beutet Sklaven aus, doch sein Sohn Americo (Adrian Xhema) verliebt in die schöne Sklavin Ilàra (Virginia Todisco).
Um diese nicht standesgemäße Verbindung zu verhindern, schickt Rodrigo seinen Sohn zum Militärdienst und Ilàra wird kurzerhand mit Iberè, Adrian Gans stellt den rebellischen Sklaven und Stammesführer dar, verheiratet. Mehr noch: Der Vater plant die Hochzeit Americos mit der Contessa di Boissy (Carla Maffioletti), doch als sie erfährt, dass ihr Angebeteter eine andere liebt, zieht sie sich zurück und lässt kurzerhand ihre Sklaven frei.
Der Keim der Rebellion, deren Anführer Iberè wird, ist gelegt. Und als Americo, der Iberè einst vor einer Grausamkeit bewahrt hatte, von der Heirat mit Ilàra erfährt, werden beide zu Gegnern. Am Ende stehen sie sich gegenüber: Iberè als Anführer der Aufständischen, Americo als ihr Gefangener. Doch um der großen Liebe Ilàras und Americos eine Chance zu geben, beschließt Iberè, sich zu opfern und in den Tod zu gehen.
Eine berührende Geschichte, die das Stadttheater als glänzendes und opulentes Gesamtkunstwerk umgesetzt hat. Es stimmt einfach alles: Angefangen beim Bühnenbild (Bernhard Niechotz), das in den ersten beiden Akten ein großes Fabriktor zeigt und in den Akten 3 und 4 durch einen Slum ersetzt wird.
Die Transformation ins 21. Jahrhundert hat Lukas Noll im Bereich der Kostüme beispielsweise durch den Einsatz von Turnschuhen, Poloshirts und Handfeuerwaffen gekonnt bewerkstelligt. Eindrucksvoll: Am Ende des zweiten Aktes hat Gomes folkloristische Tänze vorgesehen, die das Stadttheater als Samba in Karnevalskostümierung mit Federschmuck umgesetzt hat.
Ein ums andere Mal beweisen die Schauspieler und Sänger ihre große Klasse - allen voran Adrian Gans und Virginia Todisco. Und was soll man zu Carlos Spierer und dem Philharmonischen Orchester noch sagen, außer: Extraklasse.
Insgesamt haben alle Akteure, unter ihnen Chor und Extrachor des Stadttheaters, ein fantastisches und mitreißendes Gesamtkunstwerk auf die Bühne gebracht, zwar in italienischer Sprache, aber mit deutschen Übertiteln.
Weitere Termine: 11. und 25. Februar, 19. und 31. März, 24. April und 21. Mai, jeweils um 19.30 Uhr.

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