Aus "Neue Zürcher Zeitung", 14.5.2010

Marco Frei: FRAGENDER BLICK - WOHIN?

Die 12. Münchener Biennale für neues Musiktheater

[...] Am Ende hängen die Getöteten zwischen den Gittern des Laufrads. Grelles weißes Licht schattiert die Körper aus, die Musik verharrt lange im höchsten Diskant. Hier hat Maldoror, die böse Kopfgeburt aus Isidore Ducasses "Les Chants de Maldoror" von 1868/69, gewütet. Die bizarr-abgründige Schrift bildet die Grundlage des Musiktheaters "Maldoror" des Aachener Komponisten Philipp Maintz, das die 12. Münchener Biennale eröffnet hat. Für diese Uraufführung wurde mit den Theatern in Aachen und Basel kooperiert. Mit diesem Bild ist Maintz sowie den Regisseuren Georges Delnon und Joachim Rathke der stärkste Moment beim diesjährigen "Internationalen Festival für neues Musiktheater" geglückt [...].



Aus "Aachener Zeitung", 10.5.2010

Armin Kaumanns: Im Würgegriff der dunklen Seite des Ichs

Grandiose Solisten, grandioses Orchester, grandiose Regie: Philipp Maintz' Oper "Maldoror" im Theater Aachen umjubelt

Aachen. Philipp Maintz schreibt Musik, die - bei aller handwerklichen Könnerschaft und allem klanglichen Erfindungsreichtum - durch die Kraft der Suggestion selbst ungeübte Neue-Musik-Hörer in ihren Bann schlagen kann. So beginnt sein Opern-Erstling "Maldoror" in bester "Rheingold"-Manier mit einem geheimnisvollmorbidem Grummeln: Tiefes Klavier, Tamtam, große Trommel und was sich noch Sinistres dareinmischt, pulsieren in Geburtswehen des folgenden Unheils. Es ist die Apotheose des Ozeans als Quell allen Seins, der sich bei der Premiere auf der Bühne im Theater Aachen die Sopranstimme in tiefstem Register hinzugesellt, mit der ein anderthalbstündiges Musiktheater anhebt, das in fast völligem Verzicht auf Handlung Maldoror, den Engel des Bösen, und seine Wirksamkeit zum Thema hat. Lautréamonts bizarres, vorsurrealistisches Poem "Les chants de Maldoror" diente dem 1977 in Aachen geborenen Komponisten und seinem Librettisten Thomas Fiedler als Steinbruch für die sieben Szenen, in denen sich vor allem eins ereignet: Text. Man muss das schon als großartige Leistung des Regieteams um Georges Delnon und Joachim Rathke bezeichnen, dem spröden Werk eine theatrale Form erschaffen zu haben. Maßgeblich Hilfe leistet bei diesem Unterfangen die grandiose Bühne von Roland Aeschlimann, die nichts weiter als zwei ineinander verschränkbaren Gittern zu monumentaler Präsenz verhilft: Wie der Rohbau eines Schiffsrumpfes, der weit in die Bühnendecke hineinragt, ziehen waagerechte Latten ein Raster von Linien in den ansonsten schwarzleeren Raum - ein Bauch, in dem Figuren mühsam und schwindelerregend herumklettern, sich bekämpfen, sterbend sich verketten und tot herumbaumeln können; ein Innen, dem ein Vorne vorgelagert ist, auf dem Menschen handeln, wandeln können. Schließlich sind die Planken eine durchbrochene Projektionsfläche für die unablässig ablaufende Flut französischer Wörter, das Libretto, dessen weiße Buchstaben wie bei einem Film-Abspann von unten nach oben laufend mit der Bühnenaktion Schritt halten.

Quälend langsam
Der quälend langsamen Handlung steht die Musik bei, nimmt die Stimmung vorweg oder spürt ihr nach, kommentiert mit teils ausgedehnten Zwischenspielen das, was sich tut: Lautréamont, der Dichter, erschafft Maldoror, Verkörperung des Bösen in ihm selbst. Maldoror zerstört jegliches Glück: missbraucht und meuchelt einen Knaben, schändet die Mutter und macht sich auf den Leichen der Angehörigen den Vater zu Willen. Immer wieder unterbrechen Auseinandersetzungen zwischen dem Dichter und seinem Geschöpf das Geschehen, immer wieder kommentiert eine Frau, die Sopranstimme, die Szenerie des Grauens. Grandiose Höhepunkte erreicht das famose Sinfonieorchester Aachen, das sich in die völlig ungewohnte Rhythmik und Harmonik der Partitur förmlich gefressen hat. Große Ruhe strahlt Generalmusikdirektor Marcus Bosch am Pult aus: Einerseits gebietet er über den diffizilen, von Schlagwerk dominierten Klängen, die selbst Steeldrums für grausame Effekte nutzbar machen; andererseits bereitet er den Sängern jenen Grund, der sie sicher durch die teils halsbrecherischen Partien geleitet. Dabei hat die Partie der Sopranstimme noch die gesanglichsten Aufgaben: Gastsängerin Marisol Montalvo brilliert mit riesigem Ambitus und feinem Legato, gleich ob sie als eine Art Erda sich Wasser aus Kübeln übers Haupt schüttet oder auf pinken Highheels durchs Geschehen stakelt. Der famose Martin Berner als Maldoror und sein Gegenspieler Otto Katzameier (Lautréamont) müssen da schon zerklüftetere Partien stemmen - und machen das sehr eindrucksvoll. Fast ins sängerische Stammeln geraten die Familienmitglieder, unter denen die Tenorpartie des Vaters fast baritonal geführt, rhythmisch ungeheuer komplex angelegt ist - Lasse Penttinen gelingt das grandios; auch Leila Pfister als Mutter füllt ihre Rolle äußerst präsent, gleiches gilt für die Knabenpartie (Hektor Zenner). Am Schluss, als Maldoror seinen Schöpfer Lautréamont erwürgt hat und ein Tableau des Grauens schattenrissartig vor weißem Hintergrund sichtbar wird, rieselt der gesamte Text der Oper - als Projektion - von der Decke herab. Zurück in die Sanduhr der Zeit, in der der Würgeengel des Bösen ewig sein Unwesen treiben wird. Die Musik erstirbt in mühsam durchzuckter Einsilbigkeit, der ein Metronom unerbittlich Atem einhaucht.
Allgemeiner Jubel.



Aus "GRENZECHO", 10.5.2010

Sibylle Offergeld: Beifall für Operndebüt "Maldoror" des Aacheners Philipp Maintz

Unter dem Kanaldeckel lauern die Dämonen

AACHEN. Die Dämonen sind nah. Wer den Kanaldeckel über den dunklen Kammern seiner menschlichen Verirrung öffnet, wird von ihnen verschlungen wie der Dichter Lautréamont vom alter Ego "Maldoror". Im Operndebüt des Aacheners Philipp Maintz nach "Les Chants des Maldoror" des französischen Autors Ducasse, der sich "Comte de Lautréamont" nannte, erkennt der Poet im Spiegel das verkörperte Böse, sein anderes Ich. Was aus dem Meer des Unbewussten heraufstieg, nimmt Gestalt an.

Neue Musik
In schwarzer, rassig-edel-zeitloser Kluft (Kostüme Marie-Thérèse Jossen) hängt das Gespann im Gestänge einer riesigen Stahlkonstruktion gleichsam im Gewoge des urbildhaften Ozeans (Bühne Roland Aeschlimann). Aachens Musikchef Marcus R. Bosch lässt unheilvolles Tongespinst aufsteigen. Das Sinfonieorchester durcheilt in diesem Auftragswerk der Münchener Biennale für neues Musiktheater sowie der Theater Aachen und Basel ein Bilderbuch voll griffiger Klanggebilde, hier erzählend, räsonierend, geschwätzig, dort schrill wuchtig, aber auch zart und mystisch. Ohne formale Opulenz und puristisch ausgedünnt lenkt das Regieteam Georges Delnon und Joachim Rathke zum Wesentlichen, wo Erkenntnis sich aufwühlend eingräbt. In sieben Bildern nach einem Libretto von Thomas Fiedler wird das Handlungs-Rinnsal ins Psychisch-Philosophische eingebettet.

Entsetzen
Beim Gründeln im Abgrund wuchert und wabert es vielfältig, symbolhaft, surreal. Es geht um die existentielle Rechtfertigung des Raubtiers Mensch, um die Untauglichkeit der Gesetze, um einen Gott, der Dualität schuf, dem Guten das Böse zugesellte und um die Sehnsucht nach Unendlichkeit. Maldoror (Martin Berner) verführt und tötet ein Kind, dessen "Lippen sich kaum erst den Küssen des Lebens öffneten". Lautréamont (Otto Katzameier) schaut hilflos und mit wachsendem Entsetzen zu. Eine Sopranstimme (Marisol Montalvo mit reinster tonaler Höhenlage) beobachtet, kommentiert. Eine kühne Stahlkonstruktion füllt die Bühne im Theater Aachen. Das Gebilde symbolisiert den Ozean als Urbild des Lebens. In edler Einfachheit entfaltet sich das Drama um Maldoror und seinen Schöpfer Lautréamont. […] Ein Gott zugewandtes Ehepaar (Leila Pfister und Lasse Penttinen) muss sein Liebstes begraben. Dann erwürgt Maldoror sein Spiegelbild, tötet das letzte Gramm Güte in einem Meer des Bösen und wandert weiter. Licht wechselnder Tönung überflutet das Stahlgestänge, setzt meditative Akzente.

Eleganz
Da regen sich im Denkbereich des Zuschauers die Alphawellen. Jetzt kann er sich den Metaphern der Musik öffnen, deren Vielzahl solistischer Instrumental-Stimmen sich in der Empfindung zum Chor vereinen und ein Gesamtbild erschaffen. Als die Sopranstimme, die Seherin, Deuterin in schwarzer Robe zum letzten Mal vorüberschreitet, beginnt er zu resümieren: Formale Eleganz unterwirft sich Sinn gebend dem Inhalt, Videotechnik steuert mit großen Lettern in französischer Sprache ein malerischliterarisches Element bei. Otto Katzameier und Martin Berner füllen reduzierte Handlungsräume mit sonorem Klangprofil und intensiver Ausstrahlung. Marisol Montalvo erfreut mit gebündelter, vokaler Strahlkraft. Leila Pfister, Lasse Pentinnen und das Kind (A. Chadenas, alternierend mit J. Schneiders, H. Zenner) fügen sich harmonisch ein.
Das Gesamtkunstwerk, das Philipp Maintz und sein Gestalterteam schufen, ist eine wohl ausgewogene Ton-, Wort- und Bildkomposition. Die Musik vermittelt neue Erfahrungen in Form einer klangmalerischen Erzählung. Zum Schluss gab es kräftigen, anerkennenden Beifall.

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