Aus "Opernwelt" 1/ 2012

Heinz W. Koch: „Zwischen allen Stilen. Der Komponist Anno Schreier: «Die Stadt der Blinden» als Uraufführung in Zürich und «Kein Ort. Nirgends» in Freiburg"

[...] Auf der offenen Bühne im Freiburger alternativen E-Werk sind wir bei «Kein Ort. Nirgends» mit einem Spielquadrat mit Kleists Grabstein am Kleinen Wannsee konfrontiert (Bühne: Heike Mondschein). Joachim Rathke inszenierte dort sehr genau, mit viel psychologischem Gespür und etlichem Bewegungsgeschick die Teegesellschaft, in die Kleist merklich fremdelnd gerät, ihr spirituelles Selbstfindungsspiel, in dem geschieht, was in der Realität nie geschah: Der Dichter trifft auf seine Kollegin Karoline von Günderrode, und am - offenen – Ende ist es, als könne über die gemeinsame Sinnsuche hinaus aus den beiden etwas werden.

In ihrem wortlosen finalen Duettieren ist Schreiers Espressivo am unverkennbarsten bei sich selbst. Sonst könnte er oft sagen: Ich ist ein anderer. Das meint: Er brilliert als Stilkopist und schreibt Strauß-Walzer und Rossini-Arien, gibt in einem der auch hier häufigen Ensembles den Lortzing und schlüpft taktweise in das Kostüm von Kurt Weill und swingenden Kollegen. Die Holst-Sinfonietta der «Young Opera Company» erhärtet unter ihrem Chef Klaus Simon aufs Präziseste, wo diese klingende Maskerade harmonisch verrutscht und zu Teilen à la Strawinsky in Schräglage gerät. Das Ganze funktioniert auch deshalb so prägnant, weil Birger Radde, ein exzellenter lyrischer Bariton, die hoch solide zusammengesuchte Besetzung als Kleist krönt.



Aus "Neue Musikzeitung" vom 5.12.2011

Georg Rudiger: "Im Ausgestoßensein vereint: Die Young Opera Company Freiburg spielt Anno Schreiers Oper 'Kein Ort. Nirgends'"

Das Kleist-Grab am Kleinen Wannsee bei Berlin. Hier hat sich Heinrich von Kleist am 21. November 1811 das Leben genommen. Und hier ist für Regisseur Joachim Rathke der Ort, Anno Schreiers 2006 uraufgeführte Oper „Kein Ort. Nirgends“ nach der Erzählung von Christa Wolf (1979) anzusiedeln. Diese Produktion der Freiburger Young Opera Company (Leitung: Klaus Simon), die sich in der Vergangenheit immer wieder um selten gespielte, zeitgenössische Kammeropern gekümmert hat, kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.

Zum einen erfährt die Geschichte, die von einer fiktiven Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode erzählt, 200 Jahre nach Kleists Tod besondere Aufmerksamkeit. Zum anderen ist die Bekanntheit des 1979 in Aachen geborenen Komponisten nach der überaus erfolgreichen Uraufführung seiner zweiten Oper „Die Stadt der Blinden“ vor wenigen Wochen in Zürich schlagartig gestiegen. Dass die Freiburger Premiere schließlich genau einen Tag nach Christa Wolfs Tod stattfindet, verleiht diesem Musiktheaterabend, der der Schriftstellerin gewidmet ist, eine besondere Note.

Der Herbststurm bläst durch die Lautsprecherboxen. Am Boden vor dem nachgebauten Kleist-Grab (Ausstattung: Heike Mondschein) auf der Bühne des Freiburger E-Werks liegen Blätter. Ein Mann (Birger Radde) blickt verstört umher und lehnt sich an den Grabstein, ehe er von einer esoterisch angehauchten Gruppe – im Original eine Teegesellschaft um Clemens Brentano – gestört wird, die am gleichen Ort ein Seminar des „Instituts für Angewandte Romantik“ abhalten möchte. Die Verlagerung der im Jahr 1804 spielenden, handlungsarmen Erzählung in die Gegenwart macht aus „Kein Ort. Nirgends“ eine griffigere Beziehungsgeschichte mit durchaus humorvollen Anteilen, ohne dem Stück Gewalt anzutun.

Anno Schreiers Musik hilft dabei, die Figuren zu charakterisieren. Clemens Brentanos Gesang (Marian Henze) erinnert an Robert Schumann; für Georg Wedekind (Ji-Su Park) hat Schreier einen barocken Opernstil komponiert. Bettine Brentano (brillant: Ljiljana Winkler) singt eine Rossinische Koloraturarie, Friedrich Carl von Savigny (Florian Rosskopp) doziert in Zwölftonreihen über die Vernunft. Nur Gunda Savigny (stark: Kristi Anna Isene) gestattet der Komponist karikaturfreie Phrasen. Natürlich lässt Schreier diese Stilkopien nicht unangetastet, sondern verfremdet Töne und Harmonien, setzt Störgeräusche hinzu und lässt auch mal das wache Instrumentalensemble mit Piccoloflöte und gedämpfter Posaune darüber spotten. Völlig unvermittelt switcht die Oper zwischen Walzer und Jazz, Barock und freier Atonalität, eingespielter Unterhaltungsmusik und einem live gesungenen, fünfstimmigen, romantischen Chorsatz. Das ist auf die Dauer ermüdend. Es fehlt an musikalischen Übergängen. Der Stilmix ist zu grell und zu kleinteilig – und verhindert einen größeren Spannungsbogen.

Für das eigentliche Paar Heinrich von Kleist (farbenreich: Birger Radde) und Karoline von Günderrode (präsent: Sibylle Fischer), das sich im Laufe des Abends immer mehr von der Gesellschaft löst, hat Anno Schreier emotionale, moderne Musik geschrieben, die ihren eigenen Ton findet. Hier treffen Seelenverwandte aufeinander, die im Ausgestoßensein vereint sind. Am Ende weist Kleist ihr den Weg. Und findet vielleicht doch einen Ort für die beiden. Irgendwo.



Aus "Badische Zeitung" vom 5.12.2011

Heinz W. Koch: Kleist und der Walzer am Grab.
Die Freiburger Young Opera Company spielt Anno Schreiers Kammeroper "Kein Ort. Nirgends" nach Christa Wolf im E-Werk

Zum Kleist-Grab leitet ein Wegweiser im Freiburger E-Werk. Vorbei an der Tribüne, und da sind sie auch schon: der Grabstein neben dem Baumstumpf, der wie eine Stele ausschaut, das Quadrat mit dem Laubteppich. Heike Mondschein hat sich das Ambiente für Anno Schreiers Kammeroper "Kein Ort. Nirgends" nach dem Roman der am Tag vor der Premiere verstorbenen Christa Wolf ausgedacht. Nebelschwaden um die Gruft am Kleinen Wannsee. Der Wind pfeift um die offene Bühne, wenn wir den Raum betreten.

Der Sänger, der in der neuen Produktion der Young Opera Company (YOC) Heinrich von Kleist darstellt, zündet sich zur Beruhigung eine Zigarette an und behauptet öfter, er sei gesund. Der Nervenarzt Wedekind wird später beruhigend auf ihn einwirken. Nur versteht das im E-Werk so recht keiner. Aus dem Neurologen wurde hier nämlich ein tolpatschiger asiatischer Tourist mit der unvermeidlichen Kamera. Sein Text reibt sich an seinem Outfit. Das ist aber auch der einzige Fehltritt der Regie. Joachim Rathkes Inszenierung bewegt die Siebener-Gruppe, die der auch bereits verstorbene Librettist Christian Martin Fuchs aus dem Roman gefiltert hat, mit viel psychologischem Gespür und etlichem Bewegungsgeschick.

Eine untereinander vielfach verbundene Teegesellschaft um die Geschwister Brentano ist mit ihrem Picknick-Mobiliar zwecks spiritueller Selbstfindung versammelt. Und mittendrin geschieht, was in der Realität nie geschah: Der in dieser Umgebung merklich fremdelnde Kleist trifft auf seine Dichterkollegin Karoline von Günderrode, und am unentschiedenen Ende ist es, als könne über die gemeinsame Sinnsuche hinaus aus den beiden etwas werden. Eine Spur spektakuläre Utopie bleibt über der Szene wie auf den begleitenden Dias mit der historischen Gewandung der Gestalten. Indes, Kleist hantiert schon mal mit seiner Pistole, die Günderrode mit ihrem Dolch.

"Ein Spiel! Ein Spiel!" Den Ausruf auf den Lippen, war der auch erotisch aufgeladene Zirkel herein gehüpft. Und so verabschiedet die Runde sich auch am Schluss. Das trifft die Atmosphäre des 2006 vom Staatstheater Mainz uraufgeführten 70-Minuten-Werks. Schreier, Jahrgang 1979 (siehe BZ-Interview vom 1. Dezember), betreibt offenbar liebend gern das Spiel mit der Musik. Er kokettiert (hier) nahezu pausenlos mit Fetzen, Floskeln der Musikgeschichte. Kein Zweifel, er ist ein Stilkopist von Rang. Kaum tänzelt das Picknickpersonal auf die Grabstätte zu, intoniert YOC-Chef Klaus Simon mit der geschliffen reagierenden Holst-Sinfonietta einen Walzer, der sich von Johann Strauß rasch in Richtung Ravel bewegt. Das heißt: Er zerbirst, franst aus, wird demontiert. Und wenn’s Bettine von Brentano in der koloraturfirmen Gestalt von Ljiljana Winkler nach Rossini zumute ist, dann verwandelt sie sich schnurstracks in die Rosina aus dem "Barbier" mit einer überlangen Kadenz-Karikatur.

Wie in der eben in Zürich vorgestellten "Stadt der Blinden" (BZ vom 16. November) so zeigt es auch jetzt wieder: Schreier ist formal ein Operntraditionalist, abzulesen vor allem an den häufigen Ensembles. Einmal gibt er dabei fast den Lortzing. Taktweise und immer blitzlichthaft hat er’s sogar mit Kurt Weill samt HipHop-Ausblicken. Und wenn es den Doktor Wedekind zu charakterisieren gilt, zieht Schreier leicht sterilen barocken Formelkram heran. Die hoch professionelle Freiburger Herrichtung kulminiert in der instrumentalen Aufbereitung: Simon und seine Musiker(innen) bringen auf den Punkt, wie diese tönende Maskerade harmonisch verrutscht und zu Teilen à la Strawinsky in Schräglage gerät. Sie haben gleichwohl auch ein wachsames Auge auf Schreiers subtile Behandlung der Holzbläser, seinen Hang zur Streicher-, besonders zur Cello-Kantilene.

In den finalen Szenen des zentralen (Nicht-)Paars findet der Komponist am unverkennbarsten zu sich selber: eine dringliche Musiksprache, die hier deshalb so verfängt, weil die Protagonisten sich überzeugend in der sorgsamen Besetzung behaupten: Sibylle Fischer als Günderrode mit starkem Mezzoprofil und namentlich Birger Radde, ein exzellenter lyrischer Bariton, als Kleist. Die Übrigen: Kristi Anna Isene, Marian Henze, Florian Rosskopp, Ji-Su Park. Sie alle profitieren von der Sanglichkeit von Schreiers Komponieren. Allerdings, war es in Zürich das virtuose Verfügen über die Mittel der musikalischen Neuzeit, ist es jetzt die beinahe allzu große stilkopierende Gewandtheit, die einen auch ängstigen könnte. "Ein Spiel! Ein Spiel!"


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