[...] Auf der offenen Bühne im Freiburger alternativen E-Werk
sind wir bei «Kein Ort. Nirgends» mit einem Spielquadrat mit Kleists
Grabstein am Kleinen Wannsee konfrontiert (Bühne: Heike Mondschein).
Joachim Rathke inszenierte dort sehr genau, mit viel psychologischem
Gespür und etlichem Bewegungsgeschick die Teegesellschaft, in die
Kleist merklich fremdelnd gerät, ihr spirituelles Selbstfindungsspiel,
in dem geschieht, was in der Realität nie geschah: Der Dichter trifft
auf seine Kollegin Karoline von Günderrode, und am - offenen – Ende ist
es, als könne über die gemeinsame Sinnsuche hinaus aus den beiden etwas
werden.
In ihrem wortlosen finalen Duettieren ist Schreiers Espressivo am
unverkennbarsten bei sich selbst. Sonst könnte er oft sagen: Ich ist
ein anderer. Das meint: Er brilliert als Stilkopist und schreibt
Strauß-Walzer und Rossini-Arien, gibt in einem der auch hier häufigen
Ensembles den Lortzing und schlüpft taktweise in das Kostüm von Kurt
Weill und swingenden Kollegen. Die Holst-Sinfonietta der «Young Opera
Company» erhärtet unter ihrem Chef Klaus Simon aufs Präziseste, wo
diese klingende Maskerade harmonisch verrutscht und zu Teilen à la
Strawinsky in Schräglage gerät. Das Ganze funktioniert auch deshalb so
prägnant, weil Birger Radde, ein exzellenter lyrischer Bariton, die
hoch solide zusammengesuchte Besetzung als Kleist krönt.
Das Kleist-Grab am Kleinen Wannsee bei Berlin. Hier hat sich
Heinrich von Kleist am 21. November 1811 das Leben genommen. Und hier
ist für Regisseur Joachim Rathke der Ort, Anno Schreiers 2006
uraufgeführte Oper „Kein Ort. Nirgends“ nach der Erzählung von Christa
Wolf (1979) anzusiedeln. Diese Produktion der Freiburger Young Opera
Company (Leitung: Klaus Simon), die sich in der Vergangenheit immer
wieder um selten gespielte, zeitgenössische Kammeropern gekümmert hat,
kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.
Zum einen erfährt die Geschichte, die von einer fiktiven Begegnung
zwischen Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode erzählt, 200
Jahre nach Kleists Tod besondere Aufmerksamkeit. Zum anderen ist die
Bekanntheit des 1979 in Aachen geborenen Komponisten nach der überaus
erfolgreichen Uraufführung seiner zweiten Oper „Die Stadt der Blinden“
vor wenigen Wochen in Zürich schlagartig gestiegen. Dass die Freiburger
Premiere schließlich genau einen Tag nach Christa Wolfs Tod
stattfindet, verleiht diesem Musiktheaterabend, der der
Schriftstellerin gewidmet ist, eine besondere Note.
Der Herbststurm bläst durch die Lautsprecherboxen. Am Boden vor dem
nachgebauten Kleist-Grab (Ausstattung: Heike Mondschein) auf der Bühne
des Freiburger E-Werks liegen Blätter. Ein Mann (Birger Radde) blickt
verstört umher und lehnt sich an den Grabstein, ehe er von einer
esoterisch angehauchten Gruppe – im Original eine Teegesellschaft um
Clemens Brentano – gestört wird, die am gleichen Ort ein Seminar des
„Instituts für Angewandte Romantik“ abhalten möchte. Die Verlagerung
der im Jahr 1804 spielenden, handlungsarmen Erzählung in die Gegenwart
macht aus „Kein Ort. Nirgends“ eine griffigere Beziehungsgeschichte mit
durchaus humorvollen Anteilen, ohne dem Stück Gewalt anzutun.
Anno Schreiers Musik hilft dabei, die Figuren zu charakterisieren.
Clemens Brentanos Gesang (Marian Henze) erinnert an Robert Schumann;
für Georg Wedekind (Ji-Su Park) hat Schreier einen barocken Opernstil
komponiert. Bettine Brentano (brillant: Ljiljana Winkler) singt eine
Rossinische Koloraturarie, Friedrich Carl von Savigny (Florian
Rosskopp) doziert in Zwölftonreihen über die Vernunft. Nur Gunda
Savigny (stark: Kristi Anna Isene) gestattet der Komponist
karikaturfreie Phrasen. Natürlich lässt Schreier diese Stilkopien nicht
unangetastet, sondern verfremdet Töne und Harmonien, setzt
Störgeräusche hinzu und lässt auch mal das wache Instrumentalensemble
mit Piccoloflöte und gedämpfter Posaune darüber spotten. Völlig
unvermittelt switcht die Oper zwischen Walzer und Jazz, Barock und
freier Atonalität, eingespielter Unterhaltungsmusik und einem live
gesungenen, fünfstimmigen, romantischen Chorsatz. Das ist auf die Dauer
ermüdend. Es fehlt an musikalischen Übergängen. Der Stilmix ist zu
grell und zu kleinteilig – und verhindert einen größeren Spannungsbogen.
Für das eigentliche Paar Heinrich von Kleist (farbenreich: Birger
Radde) und Karoline von Günderrode (präsent: Sibylle Fischer), das sich
im Laufe des Abends immer mehr von der Gesellschaft löst, hat Anno
Schreier emotionale, moderne Musik geschrieben, die ihren eigenen Ton
findet. Hier treffen Seelenverwandte aufeinander, die im
Ausgestoßensein vereint sind. Am Ende weist Kleist ihr den Weg. Und
findet vielleicht doch einen Ort für die beiden. Irgendwo.
Zum Kleist-Grab leitet ein Wegweiser im Freiburger E-Werk.
Vorbei an der Tribüne, und da sind sie auch schon: der Grabstein neben
dem Baumstumpf, der wie eine Stele ausschaut, das Quadrat mit dem
Laubteppich. Heike Mondschein hat sich das Ambiente für Anno Schreiers
Kammeroper "Kein Ort. Nirgends" nach dem Roman der am Tag vor der
Premiere verstorbenen Christa Wolf ausgedacht. Nebelschwaden um die
Gruft am Kleinen Wannsee. Der Wind pfeift um die offene Bühne, wenn wir
den Raum betreten.
Der Sänger, der in der neuen Produktion der Young Opera Company (YOC)
Heinrich von Kleist darstellt, zündet sich zur Beruhigung eine
Zigarette an und behauptet öfter, er sei gesund. Der Nervenarzt
Wedekind wird später beruhigend auf ihn einwirken. Nur versteht das im
E-Werk so recht keiner. Aus dem Neurologen wurde hier nämlich ein
tolpatschiger asiatischer Tourist mit der unvermeidlichen Kamera. Sein
Text reibt sich an seinem Outfit. Das ist aber auch der einzige
Fehltritt der Regie. Joachim Rathkes Inszenierung bewegt die
Siebener-Gruppe, die der auch bereits verstorbene Librettist Christian
Martin Fuchs aus dem Roman gefiltert hat, mit viel psychologischem
Gespür und etlichem Bewegungsgeschick.
Eine untereinander vielfach verbundene Teegesellschaft um die
Geschwister Brentano ist mit ihrem Picknick-Mobiliar zwecks
spiritueller Selbstfindung versammelt. Und mittendrin geschieht, was in
der Realität nie geschah: Der in dieser Umgebung merklich fremdelnde
Kleist trifft auf seine Dichterkollegin Karoline von Günderrode, und am
unentschiedenen Ende ist es, als könne über die gemeinsame Sinnsuche
hinaus aus den beiden etwas werden. Eine Spur spektakuläre Utopie
bleibt über der Szene wie auf den begleitenden Dias mit der
historischen Gewandung der Gestalten. Indes, Kleist hantiert schon mal
mit seiner Pistole, die Günderrode mit ihrem Dolch.
"Ein Spiel! Ein Spiel!" Den Ausruf auf den Lippen, war der auch
erotisch aufgeladene Zirkel herein gehüpft. Und so verabschiedet die
Runde sich auch am Schluss. Das trifft die Atmosphäre des 2006 vom
Staatstheater Mainz uraufgeführten 70-Minuten-Werks. Schreier, Jahrgang
1979 (siehe BZ-Interview vom 1. Dezember), betreibt offenbar liebend
gern das Spiel mit der Musik. Er kokettiert (hier) nahezu pausenlos mit
Fetzen, Floskeln der Musikgeschichte. Kein Zweifel, er ist ein
Stilkopist von Rang. Kaum tänzelt das Picknickpersonal auf die
Grabstätte zu, intoniert YOC-Chef Klaus Simon mit der geschliffen
reagierenden Holst-Sinfonietta einen Walzer, der sich von Johann Strauß
rasch in Richtung Ravel bewegt. Das heißt: Er zerbirst, franst aus,
wird demontiert. Und wenn’s Bettine von Brentano in der koloraturfirmen
Gestalt von Ljiljana Winkler nach Rossini zumute ist, dann verwandelt
sie sich schnurstracks in die Rosina aus dem "Barbier" mit einer
überlangen Kadenz-Karikatur.
Wie in der eben in Zürich vorgestellten "Stadt der Blinden" (BZ vom 16.
November) so zeigt es auch jetzt wieder: Schreier ist formal ein
Operntraditionalist, abzulesen vor allem an den häufigen Ensembles.
Einmal gibt er dabei fast den Lortzing. Taktweise und immer
blitzlichthaft hat er’s sogar mit Kurt Weill samt HipHop-Ausblicken.
Und wenn es den Doktor Wedekind zu charakterisieren gilt, zieht
Schreier leicht sterilen barocken Formelkram heran. Die hoch
professionelle Freiburger Herrichtung kulminiert in der instrumentalen
Aufbereitung: Simon und seine Musiker(innen) bringen auf den Punkt, wie
diese tönende Maskerade harmonisch verrutscht und zu Teilen à la
Strawinsky in Schräglage gerät. Sie haben gleichwohl auch ein wachsames
Auge auf Schreiers subtile Behandlung der Holzbläser, seinen Hang zur
Streicher-, besonders zur Cello-Kantilene.
In den finalen Szenen des zentralen (Nicht-)Paars findet der Komponist
am unverkennbarsten zu sich selber: eine dringliche Musiksprache, die
hier deshalb so verfängt, weil die Protagonisten sich überzeugend in
der sorgsamen Besetzung behaupten: Sibylle Fischer als Günderrode mit
starkem Mezzoprofil und namentlich Birger Radde, ein exzellenter
lyrischer Bariton, als Kleist. Die Übrigen: Kristi Anna Isene, Marian
Henze, Florian Rosskopp, Ji-Su Park. Sie alle profitieren von der
Sanglichkeit von Schreiers Komponieren. Allerdings, war es in Zürich
das virtuose Verfügen über die Mittel der musikalischen Neuzeit, ist es
jetzt die beinahe allzu große stilkopierende Gewandtheit, die einen
auch ängstigen könnte. "Ein Spiel! Ein Spiel!"