Aus: "Drehpunkt Kultur", 02.10.2007

Elisabeth Aumiller: Irrlichter im Großstadtdschungel

Regisseur Joachim Rathke hat Engelbert Humperdincks romantische Märchenoper als eine Mischung zwischen Kasperltheater-Reminiszenz und Fernseh-Alltags-Szenarium aufbereitet

01/10/07 Märchen haben meist einen moralischen Symbolgehalt, enden fast immer mit dem Sieg des Guten über das Böse, vor allem aber finden sie in einer Traumwelt fern des Alltags statt. Wenn die Knusperhexe die "Lebkuchenkinder" mit Computerspielen in engen Kammern gefangen hält und damit zur Bewegungslosigkeit und Fettleibigkeit verdammt, spricht der Regisseur mit seiner sozialkritischen Gegenwartsadaption von "Hänsel und Gretel" eine Verständnisebene dieser heute weit verbreiteten Problematik an. Nachdem die Hexe im Ofen, der wie ein großes Waschmaschinenfenster mit bunten Bonbons aussieht, verbrannt ist, geschieht die Erlösung der "schlafenden Kinder" durch das Abstreifen ihrer gepolsterten Kostüme und damit des Übergewichts. Eine aktuelle Lösung als "Moral von der Geschichte": Bildschirm- und Süßigkeitsentzug, an deren Stelle Bewegungsaktivität tritt, senkt das Gewicht.
Verführungsambiente ist die von Heidrun Schmelzer knallbunt gestaltete Kirmesbude im "Candyland Ilsenstein". Die popigen Versatzstücke und die flirrende Lichterflut kommen gut an bei den Zuschauern. Mittelpunkt dabei ist die von Kostüm und Maske erheiternd fettleibig präparierte Knusperhexe, von Franz Supper publikumswirksam gespielt und gesungen. [...]
Wenn sich die Kinder dem Zornesausbruch der alkoholisierten Mutter entziehen, verirren sie sich im Wald von Hochhäusern in der sich im Kreis drehenden Großstadtidylle. Heidrun Schmelzer hat Wohnbauten mit zahllos erleuchteten Fenstern wie verzerrte vielstöckige Lucienhäuschen geschaffen. [...] Jetzt wird es den Kindern so recht ungemütlich im Lichtermeer des Hochhauswaldes. "Die Birken im weißen Kleid" der ängstlichen Kinderfantasie werden von weißgewandeten Nutten repräsentiert. "Glimmstängel" paffende Zuhälter sind die "Irrlichtchen" und "der glimmende Weidenstumpf". Über allem schweben die Rotlichter der Verkehrsampeln.


Aus: "Salzburger Nachrichten", 01.10.2007

Karl Harb: In den Häuserschluchten lockt das Candyland

Engelbert Humperdincks Märchenoper "Hänsel und Gretel" als knallbuntes Lutschbonbon im Salzburger Landestheater

Salzburg (SN). Viele Kinder bei der Premiere am Samstag im Salzburger Landestheater signalisierten, dass der Zauber von Engelbert Humperdincks Märchenoper "Hänsel und Gretel" ungebrochen wirkt.
[...]
Von Märchenwald ist auf der Bühne keine Spur. Tiefenpsychologisch taucht Regisseur Joachim Rathke mit seiner Ausstatterin Heidrun Schmelzer ein in einen Großstadtdschungel unserer Zeit. Hänsel und Gretel leben im Sozialbau, wie Messies auf engstem Raum unter Dutzenden Müllsäcken. Mutter spricht schon mal dem Schnapsfläschchen zu, Vater krabbelt aus dem Klappbett und poltert gutmütig in der symbolisch schrägen Stube. Dass in sie später auch das Haus der Knusperhexe projiziert ist, verweist durchaus auf einen doppelten Boden.
Zwischen sich drehenden nächtlichen Hochhauswänden begegnen die Kinder leicht geschürzten Mädchen und eindeutig kenntlichen Strizzis, aber auch seltsamen Engeln. Übernachtet wird in einem Pappkarton, nachdem das Sandmännchen - mehr ein Sandlermännchen - das Schlummerlied gesungen hat.
Die obligaten Lebkuchen sind zu knallbunten Zuckerln und Lutschern geworden, das Häuschen zu Knusperhexes bonbonfarbenem Candyland, die Hexe selbst ist eine monströse "Zuckerpuppe" und die Kinder werden wie Mastobjekte in Mikrowellenherden gehalten. Alle tragen Masken und Kostüme, die unendlich dick machen.
[...] Mit diesem Girl und diesem Boy (der auch "Bravo" liest) kann man sich schon identifizieren. [...] Nach dem Finale mit Moral gab's also großen Applaus.


Aus: "Salzburger Volkszeitung", 01.10.2007

Florian Oberhummer: Die Großstadt frisst ihre Kinder

"Hänsel und Gretel" eröffnete Landestheater-Opernsaison

"It's a jungle out there", sang einst Randy Newman. Und er meinte nicht irgendeinen subtropisch klimatisierten Erdenfleck. Die Großstadt ist diese sündhafte Lasterhöhle, die den Schattenexistenzen erst im Schutze der Nacht Leben ermöglicht.
Auch in der ersten Opern-Neuinszenierung der Landestheatersaison - Premiere war am Samstag - weicht der Wald dem Asphalt. Zwei Schlüsselkinder quälen sich zunächst durch die Müllberge der Sozialwohnung, dann durch den Hochwald der Großstadt. Dass sich "Hänsel und Gretel", Engelbert Humperdincks Märchen-Singspiel mit Volksliedqualität ("Suse, liebe Suse", "Ein Männlein steht im Walde"), längst in Comic-Welten oder der tristen Pädophilen-Welt wiederfand, ist ein Stück Rezeptionsgeschichte. Regisseur Joachim Rathke geht einen anderen Weg der Aktualisierung: Seine Hexe symbolisiert den Konsum-Terror, der dem Subproletariat mit Pommes-Großpackung und Billig-Schokoriegeln eine fette Bürde auflädt.
[...]
Einig war sich das Premierenpublikum. Jubel. Happy End.


Aus: "Kronen Zeitung", Salzburg Kultur, 01.10.07

H. Hangwallner: Gameboy und Fastfood-Figuren

Salzburger Landestheater: Humperdincks "Hänsel und Gretel"

Der Wald hat bei den Regisseuren der Gegenwart einfach keine Chance. Der Wald kann zwar nichts dafür, aber er scheint von vornherein verdächtig reaktionär zu sein. So spielt auch Humperdincks "Hänsel und Gretel"-Märchenoper im Salzburger Landestheater im traurigen und gefährlichen Dschungel einer Megacity.
Die Idee von Regisseur Joachim Rathke, für die sich Heidrun Schmelzer aparte Bühnenbilder einfallen ließ, ist durchaus interessant. Hänsel und Gretel wohnen in einer vermüllten Plattenbau-Wohnung, der Hunger ist quälend, auf der Suche nach Nahrung verirren sie sich in den Häuserschluchten, das Sandmännchen ist eine Obdachlose, das Taumännchen eine Joggerin, die Hexe verführt im "Candyland" mit Süßigkeiten.
[...] Das Schlussbild besticht mit Moral-Charme: Die Buben und Mädchen des Landestheater-Kinderchores (ausgezeichnet!) entledigen sich ihrer Fastfood-Fettleiber und schmeißen ihre Gameboys zum Müll. So erlöst, sind sie nun im richtigen Leben.


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