Aus: "Die Südostschweiz", 26.06.2006

Oliver Berger: Der Flur ist mein Königreich

Giuseppe Verdis "Un giorno di regno" als Hotelposse im Hotel: Das Opernfestival im Engadin ist am Samstag mit Schalk in die siebte Saison gestartet

Würde man Joachim Rathke nicht kennen, könnte man denken, er sei mit "Un giorno di regno" auf den allenthalben ratternden Trash-Inszenierungszug aufgesprungen. Nun ist Verdis Frühwerk aber schon Rathkes dritte Arbeit für das Opernfestival Engadin und drum ahnt man: Die gelegentliche Schmuddel-Ästhetik ist kein Stilmittel, sondern ein augenzwinkerndes Zitat aus der Welt des Regietheaters. Neben dem Abbruch-Theater zitiert Rathke in „Un giorno di regno“ auch sich selbst: Im zweiten Akt huschen plötzlich Figuren aus seinen früheren St. Moritzer Inszenierungen – Rossinis "Il turco in Italia" und Donizettis "Lucrezia Borgia" – über die Bühne.
[...]

Rathke (Assistenz: Carolin Steffen) und sein Bühnenbildner Philipp Kiefer haben sich offenbar vom Ambiente im St. Moritzer "Kulm", dem Ort der sieben Aufführungen, inspirieren lassen: Die beiden verlegen "Un giorno di regno" auf die Gänge eines Luxushotels. Zwei Flure hat Kiefer um das Publikum herum und quer durch die Ränge gruppiert. Auf dem einen liegen die Zimmer der fiktiven Gäste (und realen Solisten), im anderen befindet sich die Garderobe des Bühnen-Hotelpersonals (dem Opernchor Engadin). Das "Hotel" im Hotel als Kulisse – allein schon ein Lacher. Witzig geht’s auch während der rund zwei Stunden "Giorno di regno" zu und her – und doch vermeidet die Inszenierung den Absturz in Plattheit. Zwar schrammen Regie und Ensemble – etwa mit den Auftritten der Marchesa del Poggio als eine Mischung aus Batman und Teletubbie – haarscharf am Nonsens vorbei; Rathke wäre aber nicht Rathke, würde er den Schlenker hin zum Anspruch nicht doch immer wieder auf die eine oder andere Weise schaffen. Den Absturz verhindert das Regieteam unter anderem mit einer äußerst geschickten Führung ihres Bühnenpersonals.
[...]

Daneben besticht die Inszenierung durch einige hübsche Regie-Einfälle wie ein Duell zwischen Barone di Kelbar und Signor la Rocca, die sich in Ermangelung von Waffen auf dem Hotelflur mit Feuerlöschern Saures geben. Putzig auch, wie man einen König (auch einen falschen wie den Cavaliere Belfiore) mit nur zwei Stückchen roten Teppich quer durchs ganze Haus lotsen kann.


Aus: "Neue Zürcher Zeitung", 26.06.2006

Ein Saal als Bühne, Zuschauer als Mitspieler

Ein Hotel im Hotel

Jetzt ist das Opernfestival Engadin / St. Moritz ins Kulm-Hotel umgezogen. Eine reguläre Bühne gibt es hier so wenig wie im "Palace", und es braucht auch keine. Die Aufführungen des St. Moritzer Opernfestivals sollen ja anders sein als die üblichen. Hier werden die Räume selbst zur Bühne und die Zuschauer zu Mitspielern. Das gilt auch für die Inszenierung von Giuseppe Verdis kaum mehr aufgeführter früher komischer Oper "Un giorno di regno". Philipp Kiefer hat den 60 m langen Corviglia-Saal mit 350 Plätzen in einen Parkett- und  Tribünensektor unterteilt. Das Orchester sitzt an der einen Schmalseite des Saals. Die zentrale Parkettzone wird von einem Steg umfasst, dessen breitester Teil an der Außenwand die Hauptspielfläche bildet. Die übrigen Plätze befinden sich auf der seitlich anschließenden Tribüne. Kiefer ist eine überzeugende Raumgestaltung gelungen, die vom Regisseur Joachim Rathke einfallsreich, wenn auch mit einem Hang zur Überzeichnung und Wiederholung genutzt. Sein Konzept basiert darauf, dass er das Schloss, in dem "Un giorno di regno" spielt, zum Hotel macht und den Schlossherrn Baron Kelbar, der den für einen Tag König (und Ehestifter) spielenden Ritter Belfiore beherbergt, zum Hoteldirektor. Das Kommen und Gehen der Gäste, das sich teils vor der Kulisse nummerierter Zimmertüren, teils mitten im Publikum abspielt, ist im Stück angelegt, und die Dienerschaft agiert vielseitig in den Rollen der Schuhputzer, Büglerinnen, Köche, Tellerwäscher und Serviceangestellten.
Man kennt das Prinzip "Theater im Theater" - hier wird es abgewandelt, man spielt "Hotel im Hotel".

[...] Dass die Sänger in den italienischen Text Passagen aus ihren eigenen Sprachen einstreuen, passt zur Hotelsituation ebenso wie zu Verdis Verkleidungskomödie, und der Regisseur Rathke ist bei seinen kurzen Auftritten als Kommentator und Erzähler ein vollwertiger Ersatz für die hier nicht installierbare Übertitelungsanlage.

[...] Und noch in diesem Sommer wird man aus dem Engadin ins Unterland expandieren. Am 26. 08. hat  die letztjährige St. Moritzer Inszenierung von Donizettis "Lucrezia Borgia" in der Reithalle des Riehener Wenkenhofs Premiere, in den nächsten Jahren sollen weitere "Filialen" im Ausland eröffnet werden.


Aus: "Engadiner Post", 27.06.2006

Ingelore Balzer: Premierenglück mit "Un Giorno di Regno"

"Hautnahe" Opernerlebnisse wie Aufführungen unbekannter Werke berühmter Komponisten gehören zum Grundkonzept der Festival-Initianten und der diesjährige Opernstart geriet für sie zu einen neuerlichen Triumph.

Brillante Inszenierung und raffinierte Kostüme

Für einen so phantasievollen Regisseur wie Joachim Rathke ist eine hochmoderne Inszenierung dieses Werkes nicht nur von besonderem Reiz, sondern auch ein "Muss". Die Handlung hat er verlegt von einem Schloss in ein Hotel der Gegenwart (Bühnenbild von Philipp Kiefer) und begeistert innerhalb der zweiaktigen Komödie mit einem wahren Feuerwerk an witzigen Einfällen, die das von all diesem Geschehen völlig faszinierte Publikum mit großem Vergnügen quittierte.
Und noch eine Besonderheit hat er eingefügt: Grundsätzlich wird italienisch gesungen, aber wenn die Personen des Stücks Emotionen zeigen oder mit sich Selbstgespräche führen, tun sie dies in den Sprachen der Länder, in denen die Sänger zu Hause sind (Polen, Bulgarien, Frankreich, Schweiz, Italien und Korea).
Markante Akzente in dieser Inszenierung setzen auch die Kostüme (entworfen von Imke Sturm-Krohne) im "grosso-modo"-Stil unserer Tage, darunter besonders variantenreich: die extravagante Garderobe der Marchesa del Poggio.

[...] Eine wahre Trouvaille der Opernliteratur wurde mit dieser St. Moritzer Premiere zu neuem Leben erweckt und das Publikum zeigte sich am Premierentag ringsum absolut begeistert von diesem Ereignis. [...]


Aus: "Blick", 26.06.2006

Hans Uli von Erlach: Der König regiert im Hotel KULM

[...] Der König für einen Tag ist die ideale Sommeroper: Liebesdurcheinander mit Doppelhochzeit, spritzig, luftig, komisch, und Arien und Duetten, so süffig wie Schlager.
Die Fäden zieht Belfiore, der einen Tag lang König ist und als solcher jenes Paar zusammenbringt, das sich schon lange liebt. Und als er seinen wallenden Purpurmantel wieder abgibt, erobert auch er seine verflossene Geliebte zurück.
Hinter dem oberflächlichen Amusement aber steht Verdis meisterhafte Instrumentierung, sein effektvoller Umgang mit den Stimmen, sein absolutes Gespür für Bühnenwirksamkeit.

[...] Joachim Rathkes temporeiche Regie verlegt die verzwickte Handlung sinnigerweise vom Schloss in ein Grandhotel. Der Chor dient als schuheputzendes, kochendes oder tellerwaschendes Personal.


Aus: "Bündner Tageblatt", 26.06.2006

Ladina Heimgartner: Im "Kulm" herrscht die Oper für mehr als einen Tag

[...]

Wirrungen

Vor vollen Rängen hat die Geschichte um Liebe und List in der Inszenierung von Joachim Rathke am Samstagabend erstmals ihren Lauf genommen. Die Bühne (Philipp Kiefer) umgibt dabei den Zuschauerraum, was für die gewohnt familiäre Atmosphäre sorgt.
[...]
Um das Verständnis der Geschichte zu erleichtern, singen die Solisten gewisse Schlüsselszenen auf deutsch. Außerdem tritt Regisseur Joachim Rathke als Erzähler auf, um die Handlung jeweils kurz zusammenzufassen. In den Solistenrollen überzeugen vor allem Mezzosopranistin Violetta Radomirska (Giulietta) und Tenor Arnold Rutkowski (Edoardo). Stark auch die Leistung von "König" Belfiore (Gabriele Nani).


Aus: "Aargauer Zeitung", 27.06.2006

Christian Berzins: Der Traum von der Pantoffeloper

Opernfestival Engadin. Bei der 7. Durchführung wird im stimmungsvollen Hotel Kulm Verdis zweite Oper "Un giorno di regno" gezeigt

In einem alten, italienischen Opernhaus kann es dem Opernschwärmer passieren, dass Wirklichkeit und Traum verschmelzen, dass sich die Bühnengrenzen auflösen, die eigene rotsamtene Loge Teil des Bühnengeschehens wird. Wer in eines der großen, alten Hotels in St. Moritz tritt, könnte ähnliche Erfahrungen machen, würde das Réceptions-Personal nicht mit penetranter Freundlichkeit die sanfte Stille durchbrechen: erhabene, stolze Säle, nicht enden wollende Gänge, unendlich lange Teppiche, die jedes Gespräch zum Flüstern bringen, rosenhölzerne Wände voller alter Bilder, diskret herumflirrende Kellner, stundenlang in Sesseln thronende Müßiggänger. Eine Welt tut sich hier auf, die man nur mehr aus Romanen kennt.
Dieser Traumwelt noch einen aufgesetzt haben die Erfinder des Engadiner Opernfestivals, als sie vor sechs Jahren begannen, erst in Pontresina, dann im legendären "Palace" Opern aufzuführen. Sollte es bald schon möglich sein, quasi in Pantoffeln vom Zimmer in die Opernloge zu spazieren und seine Oper zu sehen? Wer erinnert sich da nicht zu gerne an E.T.A. Hoffmanns Opernerzählung Don Juan.
[...] Bald ist klar, wer mit wem sollte und wer mit wem möchte. Die durchdachte Regie von Joachim Rathke ist linear, wird durch ein paar Gags mal lustig, ja schrill, hat aber durchaus ihre poetischen Seiten. Dank einer 60 Meter langen Bühne, die durch den Saal mäandert, wird erreicht, dass Bewegung ins Spiel kommt und dass mal diese Seite des Saales, mal jene etwas mehr sieht. Das Sängerensemble ist mehrheitlich jung und dennoch beachtlich.
[...]


Aus: "Basler Zeitung, 27.08.2007

Siegfried Schibli: Oper für ein paar Tage. Verdis Frühwerk "Un giorno di regno" im Wenkenhofr

Zum zweiten Mal kommt eine Opernproduktion aus St. Moritz nach Riehen: Verdis komische Oper "Un giorno di regno"

[...] Die Inszenierung von Joachim Rathke ist witzig, die musikalische Gestaltung unter Jan Schultsz temporeich und das Sängerpersonal gut bis ausgezeichnet.
"Un giorno di regno" ist eine Variante des Motivs von "König für einen Tag". Hier ist das der Cavaliere Belfiore, der sich für den polnischen König Stanislas ausgibt und seine temporäre Macht zu allerlei Manövern vor allem erotischer Art nutzt. Die Verwicklungen bilden die szenische Substanz des 1840 uraufgeführten Stücks, das in der Tradition der Buffo-Oper à la Rossini steht.
[...]
Fiktion. Die Bühne von Philipp Kiefer besteht aus einem U-förmigen Laufsteg und einem Hotelflur mit acht Zimmertüren, die turbulente Auftritte erlauben. Der Chor spielt brillant das Hotelpersonal, der Baron von Kelbar (durchschlagskräftig und agil: Arkadius Burski) mutiert zum Hoteldirektor. Seine Tochter Giulietta (mit differenziert und sauber geführtem Mezzosopran: Violetta Radomirska) und seine Nichte, die Marchesa (engagiert, aber stimmlich allzu dominierend: Monica Minarelli) sind begehrte Partien, die nur durch den "König" Belfiore (mit klangschönem, geschmeidigem Bariton: Gabriele Nani) zum jeweiligen Wunschpartner finden. Das ist im Falle der exaltierten Marchesa der Ritter Belfiore und beim Töchterchen Giulietta der mittellose Edoardo (Arnold Rutkowski mit grossem, ausgeglichenen Tenor).
Joachim Rathke, sonst eher für "Werktreue" bekannt, hat einen mutigen Schritt in Richtung Regietheater getan, zusätzliches Personal eingeführt, manche skurrile Idee umgesetzt und den italienischen Text durch Fragmente in anderen Sprachen ergänzt. Wenn auch die Logik der Mehrsprachigkeit nicht recht einleuchtet, so bietet dies doch hübsche Überraschungen.
[...]

zurück