Aus „Heidenheimer Sonntagszeitung“, 8.7.2012

Silja Kummer: "Bravouröses Spiel mit den Klischees"

Mit Spannung erwartet wurde die Premiere der diesjährigen Inszenierung von „Carmen“ bei den Heidenheimer Opernfestspielen. Was macht man mit Bizets Opernstoff, der mit folkloristischen Klischees behaftet ist? Ganz einfach: Man befreit sich von ihnen.

Kurz vor Vorstellungsbeginn auf dem Heidenheimer Schlossberg am Freitagabend regnet es. Ein deutliches Zeichen für die Verantwortlichen der Opernfestspiele, dass sie alles richtig gemacht haben, denn die Premiere wurde ins Congress Centrum (oder wie man auch sagt: Festspielhaus) verlegt. Das ist zwar schade ums Ambiente im Rittersaal, aber so schade wie früher, als sich Orchester und Sänger auf die dafür viel zu kleine Bühne der Waldorfschule quetschen mussten, ist es nicht mehr. Der moderne Konzertsaal bietet genug Platz für die Inszenierung, das Orchester verschwindet im Graben.
Und auf der Bühne ist Regisseur Joachim Rathke ein Meisterstück gelungen: Die Carmen-Handlung mit ihren Zigeunerklischees wie den rassigen Frauen mit roten Blumen im Haar lässt er zwar auftreten, allerdings nur in einem Film, dessen Dreh er zeigt. Und in diese Rahmenhandlung, die sich in den bekannten Ablauf der Oper hineinflicht, packt er dann noch so manches andere Klischee, das in unseren Köpfen drin ist: Der geckenhafte Regisseur, der allenthalben mit Gegenständen wirft, die hippen Filmassistentinnen, der schwule Friseur, die Garderobiere in Kittelschürze und so fort. Gelungen ist dies, indem viele Mitglieder der Stuttgarter Choristen ganz eigene Rollen bekommen haben. Musikalisch punkten konnte die Inszenierung mit einem sicher geführten Orchester (zum letzten Mal die Nürnberger Symphoniker), Fulvio Oberto als strahlendem Tenor in der Rolle des Don José, zwei wunderbaren Zigeunerinnen Mercédès und Frasquita (Melanie Lang und Christine Graham) und einer unterkühlt-vamphaften Carmen (Helen Lapalaan). Publikumsliebling des Abends war jedoch Sopranistin Michaela Maria Mayer als Micaela, die im mädchenhaften Kleid um Don Josés Liebe flehte.



Aus „Heidenheimer Zeitung“, 9.7.2012

Manfred F. Kubiak: Spiel auf drei Ebenen

Intelligent, bunt, spannend: die „Carmen“ der Opernfestspiele

C-Movie heißt die Firma. Und so sieht’s hier auch aus. Fürs Fernsehen wird gedreht, nehmen wir mal an. Denn da schlucken die Leute garantiert auch einen richtig schlechten „Carmen“-Film, den die Welt nicht braucht. Der koksende Regisseur von der Rolle, die Schauspieler eher unterbelichtet . . . Nur der schwule Maskenbildner scheint das Ganze irgendwie zu genießen. Du meine Güte, ein Käfig voller Narren.
Aber wenn sie nicht drehen, im richtigen Leben abseits des Sets, in der Maske, beim Feiern, wenn’s wahr wird, erkennt man sie nicht wieder. Da nehmen sie plötzlich Fahrt auf und gewinnen mächtig an Statur. Wenn sie echt sind, könnte man glatt einen Film über sie drehen, mit Liebe, Eifersucht und Mord.
Aber auch hier ist ja letztendlich alles nur Theater. Denn in Wahrheit sind in Heidenheim alle in die Oper gegangen und schauen beziehungsweise spielen „Carmen“. Und was bisher nun möglicherweise ein wenig kompliziert geklungen haben mag, ist in der Wirklichkeit ganz anders: intelligent, bunt, spannend und unterhaltsam.
Ein Film also. Und warum nicht. „Carmen“-Filme gibt’s seit hundert Jahren. Aber dass auf der Opernbühne während „Carmen“ ein „Carmen“-Film gedreht wird, das hat die Welt noch nicht gesehen. Und dem Regisseur Joachim Rathke verschafft diese unterm Strich grandios funktionierende Idee die Möglichkeit, ein Spiel auf schlussendlich drei Ebenen zu eröffnen. Der Film ist die eine Sache, die allerdings, dies schon gleich mal vorweg, vom ohnehin schier unglaublich spielfreudigen Ensemble grandios umgesetzt wird.

Musiktheater im Hier und Heute

Die andere Sache ist die, dass das, von dem „Carmen“ erzählt, eben nicht in diesem von vornherein zum Scheitern verurteilten Film verhandelt wird, sondern auf der zweiten Ebene, die Rathke im Bühnenbild von Detlev Beaujean und in den Kostümen von Heike Mondschein aufmacht. Das funktioniert fabelhaft. Und die Inszenierung holt so die alte, scheinbar sattsam bekannte Geschichte ohne alle Umstände ins Hier und Heute und führt damit geradezu exemplarisch vor, was Musiktheater heute sein muss: eine lebendige Auseinandersetzung mit einem totgeglaubten Stoff.
Was im Übrigen in dieser phänomenalen Heidenheimer „Carmen“ auch für die Musik gilt. Du meine Güte: Wie oft eigentlich hat man Bizets Musik als Aneinanderreihung von Wunschkonzertmelodien gehört, als pure Begleitmusik letztendlich. Tausendmal gespielt eben, und tausendmal dirigiert. Aber nicht bei Marcus Bosch. Hier geschieht schon beinahe Schockierendes, so unverhofft erwischt einen Heidenheims Opernfestspieldirektor mit seiner Interpretation.

Brisanz aus dem Graben

Im ersten Akt lässt Bosch die ja in dieser Spielzeit letztmals im Graben sitzenden und sich bei der Premiere noch einmal schwer ins Zeug legenden Nürnberger Symphoniker dynamisch stellenweise derart zurückgenommen agieren, dass es bisweilen schon ans Unhörbare grenzt. Es fehlt nicht viel – und die Habanera könnte als A-cappella-Bravourstück durchgehen.
Aber, wohlgemerkt: Es scheint nur nicht viel zu fehlen. Denn in Wahrheit baut sich in diesem geradezu spektakulären, gleichsam gehaltenen Decrescendo eine derartige Brisanz und Spannung auf, dass die Luft vor der Bühne geradezu zu knistern scheint. Das klingt bisweilen beinahe schon radikal und – steht doch eigentlich tatsächlich so in der Partitur. Man muss es halt nur herausholen. Bosch macht das grandios. Auch dort, wo Georges Bizets Musik klingen muss, wie das Friedrich Nietzsche sehr treffend einmal gehört hat: „Diese Musik ist heiter und hat (gleichzeitig) das Verhängnis über sich.“ So, wie Bosch das Musizieren lässt, muss man die „Carmen“ erst mal musizieren!
Und so, wie Joachim Rathke sie inszeniert, passt das auch noch wunderbar dazu. Wobei an dieser Stelle schon wieder und noch einmal Nietzsche fällig wäre, der sich, dies nur am Rande, an „Carmen“ ja vor allen Dingen gegen Wagner abgearbeitet hat. „Diese Musik ist böse, raffiniert, fatalistisch; sie bleibt dabei populär.“ Und was dies nun wieder heißen soll, hat niemand besser als Ulrich Schreiber übersetzt: „Populär, weil die Wahrheit sogleich offenbarend, böse und raffiniert zugleich, weil sie zwischen Trällern und Tiefgang ausbalanciert und beides zugleich hart gegeneinanderstellt.“
Und nichts anderes macht ja auch Joachim Rathke in seiner Heidenheimer „Carmen“, die im Übrigen, was man auch erst mal so hinbringen muss, genauso intelligent wie unterhaltsam daherkommt. Hier wird auch nichts verkopft oder tiefgründelnd verschenkt, hier wird höchst seriös der zu interpretierende Stoff ausgeleuchtet und dennoch mehr als genügend Platz auch für das Komische, das Skurrile gelassen.
Darüber hinaus darf man bei Rathke über eine Personenführung staunen, die man schon atemberaubend nennen könnte. Jeder, der hier die Bühne betritt, spielt, und sei diese noch so klein, eine Rolle. Und er spielt sie überzeugend (die großartig besetzten Sängerinnen und Sänger der Nebenpartien unglaublich engagiert, die prima Stuttgarter Choristen fast schon aufgekratzt, die schön artikulierenden Kinderchoristen, allesamt SG-Eleven, beinahe so, als täten sie nie etwas anderes). So ist diese Inszenierung schließlich an Detailreichtum kaum zu überbieten. Das reichte glatt für drei oder vier „Carmens“. Allein der brillant ausgespielte running gag mit der Bierbank in der Kartenszene wäre schon einen Begeisterungssturm wert. Doch, es darf auch herzlich gelacht werden.

Der weibliche Autonomieanspruch

Aber letztendlich dreht sich auch bei Rathke, und bei ihm vielleicht mehr noch als sonst üblich, alles um Carmen. Denn diese Inszenierung rückt vor allem anderen den weiblichen Autonomieanspruch in den Fokus des Geschehens. Carmen nämlich nimmt sich die Freiheit, selber zu begehren. Was sie nicht will, ist das Begehrtwerden von der Sorte, das ihr die Männer antragen.
Und wo das der Stierkämpfer Escamillo irgendwie einfach mal so hinnimmt – Adrian Gans, ein junger Bariton mit erheblicher Substanz, klingt am Premierenabend etwas unausgewogen –, hat der am Ende rasende José schwer daran zu schlucken und will es partout nicht wahrhaben. Fulvio Oberto, der, wenn es sein muss, freihändig zwischen zehn Flaschen hindurch über einen Biertisch flankt, singt dazu von der Liebe ebenso kraftstrotzend wie von der Verzweiflung.
Carmen nun wiederum kommt uns in dieser Inszenierung anders als sonst üblich entgegen. Eben nicht ständig mit den Hüften schwingend, allein durchs Erscheinen Begehren auslösen wollend, eine männerfressende Tigerin auf der Pirsch, sondern in ihrem selbstbewusst offen bekundeten Anspruch auf Autonomie auf der anderen Seite ebenso zögernd wie verletzlich, eher tänzelnd als auftanzend. Denn was sie verlangt, nämlich als Frau selber zu begehren, ist ja selbst heute noch womöglich durchaus ungewöhnlich.
Wäre es anders, das Publikum würde eben nicht den Vamp Carmen erwarten (und in so vielen Inszenierungen auch geliefert bekommen), sondern es würde genau das erwarten, was Helen Lepalaan in dieser Inszenierung so grandios darstellt. Ihrer Carmen glaubt man jedes Wort, das sie singt. Und wie sie es singt, könnte es passender nicht sein. Man sieht also: Diese Inszenierung spielt durchaus auch mit Klischees. Aber selbstverständlich nur, um sie als solche zu entlarven; nicht auf die brachiale, sondern auf die subtile Art. Ausnahme Micaela: Sie, ohnehin in ihrer Art, die kein Arg kennt, die große Ausnahme in dieser Oper, lässt Rathke, wenn man so will, unangetastet. Michaela Mayer singt sie überragend, wunschlos glücklich machend.

Grüße aus der neuen schönen Medienwelt

Und dann kommt’s, wie’s bei „Carmen“ kommen muss. Aber Rathke wäre in dieser Produktion nicht Rathke, wenn er nicht noch eins oder eine draufsetzen würde. Eine tatsächlich dritte Ebene. Zunächst drehen sich Carmen und José noch im selben Takt wie über ihnen auf einer Leinwand und via Film ein Stier und ein Torero. Und als José dann zur Klinge greift, wird plötzlich der ansonsten hilflose C-Movie-Regisseur (stark in seiner stummen Rolle: Roman Kohnle) lebendig. Sein „Carmen“-Film ist plötzlich vergessen, denn nun gilt’s, einen echten Mord zu filmen.
Da fühlt sich auf einmal jede Zelle des gelangweilten Koksers erfrischt, der Mann ist nun in seinem Element – und die Kamera führt uns bei dieser Gelegenheit auch noch gratis die Gesetze unserer schönen neuen Medienwelt vor Augen. Und so, wie diese nicht mehr unbedingt zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden mag, so weiß der Betrachter in Heidenheim womöglich nicht, wo er zuerst hinschauen soll: auf Carmen und José im Todeskampf oder auf das, was die Kamera davon zeigt.
Ein großer Abend.


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