Kurz vor Vorstellungsbeginn auf dem Heidenheimer Schlossberg
am Freitagabend regnet es. Ein deutliches Zeichen für die
Verantwortlichen der Opernfestspiele, dass sie alles richtig gemacht
haben, denn die Premiere wurde ins Congress Centrum (oder wie man auch
sagt: Festspielhaus) verlegt. Das ist zwar schade ums Ambiente im
Rittersaal, aber so schade wie früher, als sich Orchester und Sänger
auf die dafür viel zu kleine Bühne der Waldorfschule quetschen mussten,
ist es nicht mehr. Der moderne Konzertsaal bietet genug Platz für die
Inszenierung, das Orchester verschwindet im Graben.
Und auf der Bühne ist Regisseur Joachim Rathke ein Meisterstück
gelungen: Die Carmen-Handlung mit ihren Zigeunerklischees wie den
rassigen Frauen mit roten Blumen im Haar lässt er zwar auftreten,
allerdings nur in einem Film, dessen Dreh er zeigt. Und in diese
Rahmenhandlung, die sich in den bekannten Ablauf der Oper hineinflicht,
packt er dann noch so manches andere Klischee, das in unseren Köpfen
drin ist: Der geckenhafte Regisseur, der allenthalben mit Gegenständen
wirft, die hippen Filmassistentinnen, der schwule Friseur, die
Garderobiere in Kittelschürze und so fort. Gelungen ist dies, indem
viele Mitglieder der Stuttgarter Choristen ganz eigene Rollen bekommen
haben. Musikalisch punkten konnte die Inszenierung mit einem sicher
geführten Orchester (zum letzten Mal die Nürnberger Symphoniker),
Fulvio Oberto als strahlendem Tenor in der Rolle des Don José, zwei
wunderbaren Zigeunerinnen Mercédès und Frasquita (Melanie Lang und
Christine Graham) und einer unterkühlt-vamphaften Carmen (Helen
Lapalaan). Publikumsliebling des Abends war jedoch Sopranistin Michaela
Maria Mayer als Micaela, die im mädchenhaften Kleid um Don Josés Liebe
flehte.
C-Movie heißt die Firma. Und so sieht’s hier auch aus. Fürs
Fernsehen wird gedreht, nehmen wir mal an. Denn da schlucken die Leute
garantiert auch einen richtig schlechten „Carmen“-Film, den die Welt
nicht braucht. Der koksende Regisseur von der Rolle, die Schauspieler
eher unterbelichtet . . . Nur der schwule Maskenbildner scheint das
Ganze irgendwie zu genießen. Du meine Güte, ein Käfig voller Narren.
Aber wenn sie nicht drehen, im richtigen Leben abseits des Sets, in der
Maske, beim Feiern, wenn’s wahr wird, erkennt man sie nicht wieder. Da
nehmen sie plötzlich Fahrt auf und gewinnen mächtig an Statur. Wenn sie
echt sind, könnte man glatt einen Film über sie drehen, mit Liebe,
Eifersucht und Mord.
Aber auch hier ist ja letztendlich alles nur Theater. Denn in Wahrheit
sind in Heidenheim alle in die Oper gegangen und schauen
beziehungsweise spielen „Carmen“. Und was bisher nun möglicherweise ein
wenig kompliziert geklungen haben mag, ist in der Wirklichkeit ganz
anders: intelligent, bunt, spannend und unterhaltsam.
Ein Film also. Und warum nicht. „Carmen“-Filme gibt’s seit hundert
Jahren. Aber dass auf der Opernbühne während „Carmen“ ein „Carmen“-Film
gedreht wird, das hat die Welt noch nicht gesehen. Und dem Regisseur
Joachim Rathke verschafft diese unterm Strich grandios funktionierende
Idee die Möglichkeit, ein Spiel auf schlussendlich drei Ebenen zu
eröffnen. Der Film ist die eine Sache, die allerdings, dies schon
gleich mal vorweg, vom ohnehin schier unglaublich spielfreudigen
Ensemble grandios umgesetzt wird.
Musiktheater im Hier und Heute
Die andere Sache ist die, dass das, von dem „Carmen“ erzählt, eben
nicht in diesem von vornherein zum Scheitern verurteilten Film
verhandelt wird, sondern auf der zweiten Ebene, die Rathke im
Bühnenbild von Detlev Beaujean und in den Kostümen von Heike Mondschein
aufmacht. Das funktioniert fabelhaft. Und die Inszenierung holt so die
alte, scheinbar sattsam bekannte Geschichte ohne alle Umstände ins Hier
und Heute und führt damit geradezu exemplarisch vor, was Musiktheater
heute sein muss: eine lebendige Auseinandersetzung mit einem
totgeglaubten Stoff.
Was im Übrigen in dieser phänomenalen Heidenheimer „Carmen“ auch für
die Musik gilt. Du meine Güte: Wie oft eigentlich hat man Bizets Musik
als Aneinanderreihung von Wunschkonzertmelodien gehört, als pure
Begleitmusik letztendlich. Tausendmal gespielt eben, und tausendmal
dirigiert. Aber nicht bei Marcus Bosch. Hier geschieht schon beinahe
Schockierendes, so unverhofft erwischt einen Heidenheims
Opernfestspieldirektor mit seiner Interpretation.
Brisanz aus dem Graben
Im ersten Akt lässt Bosch die ja in dieser Spielzeit letztmals im
Graben sitzenden und sich bei der Premiere noch einmal schwer ins Zeug
legenden Nürnberger Symphoniker dynamisch stellenweise derart
zurückgenommen agieren, dass es bisweilen schon ans Unhörbare grenzt.
Es fehlt nicht viel – und die Habanera könnte als
A-cappella-Bravourstück durchgehen.
Aber, wohlgemerkt: Es scheint nur nicht viel zu fehlen. Denn in
Wahrheit baut sich in diesem geradezu spektakulären, gleichsam
gehaltenen Decrescendo eine derartige Brisanz und Spannung auf, dass
die Luft vor der Bühne geradezu zu knistern scheint. Das klingt
bisweilen beinahe schon radikal und – steht doch eigentlich tatsächlich
so in der Partitur. Man muss es halt nur herausholen. Bosch macht das
grandios. Auch dort, wo Georges Bizets Musik klingen muss, wie das
Friedrich Nietzsche sehr treffend einmal gehört hat: „Diese Musik ist
heiter und hat (gleichzeitig) das Verhängnis über sich.“ So, wie Bosch
das Musizieren lässt, muss man die „Carmen“ erst mal musizieren!
Und so, wie Joachim Rathke sie inszeniert, passt das auch noch
wunderbar dazu. Wobei an dieser Stelle schon wieder und noch einmal
Nietzsche fällig wäre, der sich, dies nur am Rande, an „Carmen“ ja vor
allen Dingen gegen Wagner abgearbeitet hat. „Diese Musik ist böse,
raffiniert, fatalistisch; sie bleibt dabei populär.“ Und was dies nun
wieder heißen soll, hat niemand besser als Ulrich Schreiber übersetzt:
„Populär, weil die Wahrheit sogleich offenbarend, böse und raffiniert
zugleich, weil sie zwischen Trällern und Tiefgang ausbalanciert und
beides zugleich hart gegeneinanderstellt.“
Und nichts anderes macht ja auch Joachim Rathke in seiner Heidenheimer
„Carmen“, die im Übrigen, was man auch erst mal so hinbringen muss,
genauso intelligent wie unterhaltsam daherkommt. Hier wird auch nichts
verkopft oder tiefgründelnd verschenkt, hier wird höchst seriös der zu
interpretierende Stoff ausgeleuchtet und dennoch mehr als genügend
Platz auch für das Komische, das Skurrile gelassen.
Darüber hinaus darf man bei Rathke über eine Personenführung staunen,
die man schon atemberaubend nennen könnte. Jeder, der hier die Bühne
betritt, spielt, und sei diese noch so klein, eine Rolle. Und er spielt
sie überzeugend (die großartig besetzten Sängerinnen und Sänger der
Nebenpartien unglaublich engagiert, die prima Stuttgarter Choristen
fast schon aufgekratzt, die schön artikulierenden Kinderchoristen,
allesamt SG-Eleven, beinahe so, als täten sie nie etwas anderes). So
ist diese Inszenierung schließlich an Detailreichtum kaum zu
überbieten. Das reichte glatt für drei oder vier „Carmens“. Allein der
brillant ausgespielte running gag mit der Bierbank in der Kartenszene
wäre schon einen Begeisterungssturm wert. Doch, es darf auch herzlich
gelacht werden.
Der weibliche Autonomieanspruch
Aber letztendlich dreht sich auch bei Rathke, und bei ihm vielleicht
mehr noch als sonst üblich, alles um Carmen. Denn diese Inszenierung
rückt vor allem anderen den weiblichen Autonomieanspruch in den Fokus
des Geschehens. Carmen nämlich nimmt sich die Freiheit, selber zu
begehren. Was sie nicht will, ist das Begehrtwerden von der Sorte, das
ihr die Männer antragen.
Und wo das der Stierkämpfer Escamillo irgendwie einfach mal so hinnimmt
– Adrian Gans, ein junger Bariton mit erheblicher Substanz, klingt am
Premierenabend etwas unausgewogen –, hat der am Ende rasende José
schwer daran zu schlucken und will es partout nicht wahrhaben. Fulvio
Oberto, der, wenn es sein muss, freihändig zwischen zehn Flaschen
hindurch über einen Biertisch flankt, singt dazu von der Liebe ebenso
kraftstrotzend wie von der Verzweiflung.
Carmen nun wiederum kommt uns in dieser Inszenierung anders als sonst
üblich entgegen. Eben nicht ständig mit den Hüften schwingend, allein
durchs Erscheinen Begehren auslösen wollend, eine männerfressende
Tigerin auf der Pirsch, sondern in ihrem selbstbewusst offen bekundeten
Anspruch auf Autonomie auf der anderen Seite ebenso zögernd wie
verletzlich, eher tänzelnd als auftanzend. Denn was sie verlangt,
nämlich als Frau selber zu begehren, ist ja selbst heute noch womöglich
durchaus ungewöhnlich.
Wäre es anders, das Publikum würde eben nicht den Vamp Carmen erwarten
(und in so vielen Inszenierungen auch geliefert bekommen), sondern es
würde genau das erwarten, was Helen Lepalaan in dieser Inszenierung so
grandios darstellt. Ihrer Carmen glaubt man jedes Wort, das sie singt.
Und wie sie es singt, könnte es passender nicht sein.
Man sieht also: Diese Inszenierung spielt durchaus auch mit Klischees.
Aber selbstverständlich nur, um sie als solche zu entlarven; nicht auf
die brachiale, sondern auf die subtile Art. Ausnahme Micaela: Sie,
ohnehin in ihrer Art, die kein Arg kennt, die große Ausnahme in dieser
Oper, lässt Rathke, wenn man so will, unangetastet. Michaela Mayer
singt sie überragend, wunschlos glücklich machend.
Grüße aus der neuen schönen Medienwelt
Und dann kommt’s, wie’s bei „Carmen“ kommen muss. Aber Rathke wäre in
dieser Produktion nicht Rathke, wenn er nicht noch eins oder eine
draufsetzen würde. Eine tatsächlich dritte Ebene. Zunächst drehen sich
Carmen und José noch im selben Takt wie über ihnen auf einer Leinwand
und via Film ein Stier und ein Torero. Und als José dann zur Klinge
greift, wird plötzlich der ansonsten hilflose C-Movie-Regisseur (stark
in seiner stummen Rolle: Roman Kohnle) lebendig. Sein „Carmen“-Film ist
plötzlich vergessen, denn nun gilt’s, einen echten Mord zu filmen.
Da fühlt sich auf einmal jede Zelle des gelangweilten Koksers
erfrischt, der Mann ist nun in seinem Element – und die Kamera führt
uns bei dieser Gelegenheit auch noch gratis die Gesetze unserer schönen
neuen Medienwelt vor Augen. Und so, wie diese nicht mehr unbedingt
zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden mag, so weiß der
Betrachter in Heidenheim womöglich nicht, wo er zuerst hinschauen soll:
auf Carmen und José im Todeskampf oder auf das, was die Kamera davon
zeigt.
Ein großer Abend.