Das Jahr 2009 - eine Chance für den Opernkomponisten Joseph Haydn?


Keiner kann alles: schäkern und erschüttern,
Lachen erregen und tiefe Rührung,
und alles gleich gut – als Haydn.

W. A. Mozart

Immer wieder haben sich in der Musikgeschichte Vorurteile gebildet, die trotz mancher Gegenbeweise schwer auszurotten sind, so wie Unkraut, das man an einer Stelle herauszieht und das an einer anderen wieder zu wuchern beginnt. So hält sich hartnäckig die Ansicht, dass Joseph Haydn, der Schöpfer herrlichster Kammermusik und Sinfonien, kein Talent zur Oper hatte, und nicht einmal seine so volkstümlich gewordenen Oratorien veranlassen zu der Fragestellung, ob dem Meister, der darin so wunderbare Musik für Sänger geschrieben hatte, nicht früher in seinen Opern schon Ähnliches gelungen sei.

Nun waren schon deren Startbedingungen denkbar ungünstig gewesen. Sie erblickten nicht, wie fast alle Werke unseres heutigen Opern-Repertoires, das Licht der Musikwelt in den wichtigen Metropolen unter den Augen und Ohren eines großen Publikums und einer erwartungsvollen Kritik, sondern in der Abgeschiedenheit der ungarischen Puszta, im Schlosstheater der Fürsten Esterházy. In einem Brief an den Verlag Ataria vom 27.5.1781 schrieb Haydn in Bezug auf die Opern L' isola disabitata und La fedeltà premiata: "...ich versichere, dass dergleichen Arbeit in Paris noch nicht ist gehört worden und vielleicht ebenso wenig in Wien; mein Unglück ist nur der Aufenthalt auf dem Lande."

Aber auch Haydn selbst ist nicht ganz unschuldig daran, dass sich dieses Vorurteil bilden konnte. Seinem Biographen Georg August Griesinger gegenüber bemerkte er, dass er ein vorzüglicher Opernkomponist geworden wäre, wenn er das Glück gehabt hätte, nach Italien zu kommen. Eine solche Äußerung ist Wasser auf die Mühlen von Musikologen, die nicht die schöpferische Phantasie besitzen, sich vorzustellen, dass das Skelett der Partitur zu einen lebenskräftigen Organismus gestaltet werden kann, und sie wird mit Vorliebe von Kritikern zitiert, die ihren negativen Eindruck von einer unzulänglichen Aufführung auf die Qualität des Werkes übertragen. Aber diese Aussage Haydns entbehrt der Berechtigung und muss unter dem Aspekt seiner grenzenlosen Bescheidenheit gesehen werden. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Was den Operngesang betraf, so hatte er es nicht nötig, ihn in Italien zu studieren. Er war in Wien Schüler Niccola Porporas gewesen, der als bester Gesangslehrer seiner Zeit und als größter Kenner der menschlichen Stimme galt. Am Fürstenhof beinhaltete Haydns Vertrag daher auch die stimmliche Betreuung und Weiterbildung der Sänger, und es waren erstklassige Kräfte, die er gewinnen konnte, da der Fürst bereit war, höhere Gehälter als selbst der kaiserliche Hof zu zahlen. So erklärt es sich, dass viele der Partien in Haydns Opern allergrößte stimmliche Anforderungen stellen. Und kein Italienaufenthalt hätte ihm das Wissen um die italienische Oper verschaffen können, das er sich auf Esterháza erwarb. Zwischen 1776 und 1790 kamen unter seiner Leitung 1200 Vorstellungen von 88 verschiedenen Opern heraus, fast alle aus dem international verbreiteten Repertoire italienischer Komponisten. Und in Haydns Händen lagen nicht nur Einstudierung und Dirigat, er arbeitete auch Werke um und nahm Verbesserungen vor, nachdem er ein intensives Studium der Partituren betrieben hatte.

So zeigt sich Haydns Begabung für die Bühne, in diesem Fall für die komische Dramatik, schon in seiner Oper Lo speziale, deren Text (wie übrigens auch der von der neun Jahre später entstandenen Il mondo della luna) auf Carlo Goldoni zurückgeht. Haydn hat über die an sich einfache Handlung eine Fülle von Musik ausgegossen, die die jeweilige Situation präzise, oft nur mit ein paar Noten schildert. Diese Musik vertieft den Wortgehalt, ohne Melodie und Wohlklang zu opfern. Was hier an feinstem musikalischem Humor geboten wird, hat Seltenheitswert. Mit der Neuausgabe des Bärenreiter-Verlages liegt zum ersten Mal das auf dem Original beruhende Material der dreiaktigen Fassung vor. Die Tatsache, dass an Musiknummern des 3. Aktes nur die (in den Bereich des absurden Theaters vorstoßende) Arie Nr. 20 und das Finale Nr. 21 vorliegen, muss kein Hindernis für die Aufführungspraxis darstellen : man kann den vorhandenen Text als reinen Dialog sprechen oder ihn mit dem Cembalo (quasi als Melodram-Parodie) "ausmalend" unterlegen. Eine Nachkomposition, die ebenfalls möglich ist, dürfte sich schwieriger gestalten.

Der Librettist von L' infedeltà delusa, Marco Coltellini, gehörte einem Kreis von aufklärerischen Künstlern mit dem deutlichen Zug zur Gesellschafts- und Sittenkritik an. Sein beißender Spott erinnert manchmal an Beaumarchais. In dieser Oper gibt es keine Mythologie, keine Götter und Halbgötter, sondern nur noch Bauern. Wenn einmal ein Adliger auftaucht, entpuppt er sich als verkleidete Bäuerin. Der Musikwissenschaftler und wohl verdienstvollste Haydn-Forscher, H.C. Robbins Landon, spricht von dem in mancher Hinsicht dichtesten Stoff, den Haydn je vertont hat, und nennt dieses Werk Haydns inspirierteste Oper. Tatsächlich ist die Musik oft von bemerkenswertem Tiefgang und sprengt mit ihren emotionalen Zügen und leidenschaftlichen Episoden den Rahmen einer "Burletta per musica". Immer wieder kommen Wendungen vor, die aufhorchen lassen, die auch Dissonanzen offen legen und den seelischen Untergrund der Figuren zeigen.

Wie Mozarts Don Giovanni ist La vera costanza ein "Dramma giocoso", und die Handlung weist mit ihrer sozialkritischen Tendenz auf den Figaro voraus: im Intrigenspiel unterliegt die Aristokratie einem Kind aus dem Volke, einer Fischerin. In diesem Werk, das höchsten kompositorischen Ansprüchen genügt, finden sich sowohl buffoneske als auch ernste Elemente, die Haydn aber nicht einfach nebeneinander stellt, sondern glaubwürdig verschmilzt. Es erscheinen hier innerhalb seines Opernschaffens erstmals neue musikalische Formen, und solche dramatische Meisterleistungen wie die Finali des ersten und zweiten Aktes wird man bei seinen italienischen Zeitgenossen vergeblich suchen.

Ungewöhnlich in mehrfacher Hinsicht ist Haydns 90-minütige, auf vier Charaktere beschränkte, aber reich instrumentierte Oper L'isola disabitata. Schon die Ouvertüre, die mit einem düsteren, tief empfundenen g-Moll-Largo beginnt, unterscheidet sich grundlegend von der italienischen Sinfonia alten Stils. Es war das einzige Mal, dass Haydn auf ein Libretto Pietro Metastasios zurückgriff, und ausgerechnet diese Oper wurde seine radikalste Absage an den italienischen Barock. Die Rezitative sind ausnahmslos ausgedehnte, vom Orchester begleitete und kommentierte Szenen, die oft mit den Arien größere musikdramatische Einheiten bilden. Die robinsonhafte Verlassenheit der beiden Frauen und ihr Wiederauffinden durch die Männer ist psychologisch äußerst feinsinnig gestaltet. Was der Handlung an äußerer Dramatik fehlen mag, wird voll und ganz durch die inneren Vorgänge der Charaktere ersetzt, die im Gesangs- und Orchesterpart zu bewegendem Klang geworden sind.

Herausragend in Haydns Gesamtwerk ist La fedeltà premiata mit ihrer geistreichen und tiefgründigen Musik, die ein raffiniertes System der Verbindungen von Tonarten aufweist. Haydns musikalische Form ist hier so frei und uneingeschränkt entwickelt wie seine Phantasie. Als "Dramma pastorale giocoso" ist dieses Werk bezeichnet, aber Haydns Musik hebt es weit aus dem konventionellen Rahmen eines Schäferspiels heraus. So bunt und abwechslungsreich wie die szenischen Vorgänge ist die Komposition in ihrer erstaunlichen Farbigkeit, und es wird hörbar, wie viel Spaß Haydn an so mancher umwerfend komischen Begebenheit gehabt hatte. Das sich großartig steigernde Kettenfinale des ersten Aktes mit seinen 822 Takten ist eines der Glanzstücke dieser Oper. Um auf eine normale Aufführungsdauer zu kommen, sind Striche notwendig, und die Entscheidung, was geopfert werden soll, wird nicht leicht fallen.

Die meistaufgeführte Oper Haydns zu seinen Lebzeiten war Orlando paladino, was sie sicher auch ihrer klugen Mischung von Heroischem und Komischem verdankt. Dabei ist die Opera seria zum Teil mit tiefen, echten Gefühlen erfüllt, zum Teil aber auch mit Augenzwinkern gestaltet und ihr Pathos ausgehöhlt. Die Buffa-Szenen fließen von komödiantischem Einfallsreichtum über, und immer ist die Musik, ob in den brillanten Arien, den hochdramatischen Orchesterrezitativen oder in den effektvoll aufgebauten Finali, auf die Situation bzw. die Gemütsverfassung der Charaktere bezogen.

Diese Werke seien stellvertretend für alle anderen Haydn-Opern genannt, die jede in ihrer Art Schätze in sich bergen, deren Ausgrabung zu einer Bereicherung führt, von La canterina über Le pescatrici, L'incontro improvviso und Il mondo della luna bis hin zu Armida und L'anima del filosofo ossia Orfeo ed Euridice. Hier soll nicht der untaugliche Versuch unternommen werden, Haydn zu einem Musikdramatiker vom Range Mozarts (was dessen sieben Hauptwerke betrifft) hoch zu stilisieren. Der Schlüssel, mit dem sich die Schatztruhen seiner Opern öffnen lassen, liegt in seiner Äußerung: "Ich war von der Welt abgesondert, niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen oder mich quälen, und so musste ich original werden." Es gilt, diese Originalität aufzuspüren und daraus die Funken zu schlagen, die zünden und überspringen. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe bieten uns großartige, inspirierte und mit erstklassigen Ausführenden besetzte CD-Gesamtaufnahmen wie die von Antal Dorati, David Golub oder Nikolaus Harnoncourt Information und Anregung.

Jubiläumsjahre, in denen die Geburts- und Todestage von Komponisten gefeiert werden, die sich längst einen festen Platz im Repertoire erobert haben, bringen oft eine Inflation überflüssiger Aktivitäten mit sich oder geraten zur Pflichtübung. Zur Verpflichtung dagegen werden Jubiläen, wenn es darum geht, zu Unrecht vernachlässigte Werke in das rechte Licht zu rücken und ihnen die verdiente Geltung zu verschaffen. Der 200. Todestag des Opernkomponisten Joseph Haydn im Jahr 2009 sollte eine solche Verpflichtung sein.


(Dr. Peter Brenner, takte 1/2007, Bärenreiter)

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